Schwindende Schönheiten

Zwischen dem Lötschbergsee und dem majestätischen Bietschhorn zeichnet sich das Lötschental ab. Bekannt ist es nicht zuletzt für sein urchiges Brauchtum.

Um den Lötschenpass zu überschreiten, reichen sechs Stunden. Doch unser Ausgangspunkt, das Gasterntal, ist so faszinierend und die Hütte auf der Passhöhe so einladend, dass es sich geradezu aufdrängt, zwei oder drei Tage dafür einzuplanen.

Wer Augen hat zu sehen, sieht hier so einiges. Aus drei, vier Öffnungen in der Felswand am Fuss des Tatelishorns schiesst Wasser hervor und stürzt in freiem Fall zu Tal. «Nein, nein», versichert der Wirt des Hotels Waldhaus, der uns auf der Terrasse knusprige Rösti serviert, auf eine entsprechende Frage, «das ist alles ganz natürlich», da stecke weder die Stromwirtschaft noch das Militär dahinter. Blicken wir in die Gegenrichtung, präsentiert sich uns eine hohe Wand, deren Gestein durch erdgeschichtliche Urkräfte in eine ziemlich perfekte S-Form gepresst wurde. 
Talaufwärts liegt das Gastereholz vor uns, eine von Weiden und Grauerlen geprägte Auenlandschaft von nationalem Rang, durch welche die Kander sich ihre Wege bahnt. Viel Wasser führt sie. In der Schlucht, die von Kandersteg hier hinaufführt, tost und gischtet es gewaltig. Ungleich zahmer kommt der Schwarzbach im Wäldchen hinter dem Waldhaus daher. Die Umgebung des Gasthofs, in dem Kinder Züge eines Hexenhäuschens entdecken mögen, bildet einen Spielplatz wie aus dem Bilderbuch. Urtümlich und von Motorenlärm weitgehend frei, ist das Gasterntal sowohl eine Oase der Ruhe als auch ein idealer Ort, um Kinder oder Grosskinder an die Bergwelt heranzuführen. Das erste Viertel und weitere Abschnitte des rund sechs Kilometer langen Talwegs bis Selden, wo die Passroute beginnt, sind sogar kinderwagentauglich. 
Weiteste Teile sind Naturschutzgebiet. Aus der reichen Flora ragen, so die befragte ortskundige Biologin, die Alpenrebe Clematis alpina und der im Juni blühende Frauenschuh heraus. Auch die Fauna biete Aussergewöhnliches, das Tal sei «einer der wenigen Orte, an denen sich Aspisviper- und Kreuzottervorkommen überschneiden». Beim Heidelbeerensammeln ist also doppelt Vorsicht geboten. Sehr viel eher wird man indes Tieren mit Sympathiebonus begegnen, zum Beispiel dem Murmeltier. 

Stoische Kühe, schwitzender Firn

Im Gegensatz zum Talboden ist der Pass nur bedingt familientauglich, liegt vor uns doch eine ausgewachsene Bergwanderung von gut 1500 auf knapp 2700 Meter über Meer. Eine erste Steilstufe führt über die Gfelalp zum Schönbüel. Welch passender Name: Vor allem die Flanken des Doldenhorns im Rücken von Selden ziehen uns in ihren Bann. Dutzende Felstürme und -türmchen gliedern sie, manche fast wie spitze Pyramiden oder skurrile Schachfiguren wirkend. Ein naturalistisches Bild davon malen zu wollen, bräuchte ebenso viel Geduld wie Talent. Im anschliessenden Talkessel machen weidende Kühe das Alpidyll perfekt, stoisch mampfend und mit ihren Glotzaugen die Zweibeiner musternd. Unsere Blicke gehen nun zum schwitzenden Kanderfirn hinüber, an dessen Ende die felssturzbedrohte Mutthornhütte einer höchst ungewissen Zukunft entgegensieht. 
Nächste Steilstufe, vom saftigen Grasland innert Kurzem hinauf zum Gletscherplateau – «angesichts des nahen Abbruchs des Lötschengletschers», wie ein Wanderbuch von 1990 versprach. Doch da ist nur noch ein Wasserfall. So schön er anzusehen ist, so nachdenklich stimmt die Menge des Schmelzwassers. Quer über das Gletscherzünglein hinweg, das weitgehend von Geröll und Schutt bedeckt ist, geht es zur mächtigen Seitenmoräne, auf sie hinauf und ihr entlang bis zum letzten steilen Wegstück, einer Felspassage mit einigen Fixseilen. Je höher wir steigen, desto eindrücklicher setzt sich in Szene, was vom Eisstrom noch übrig ist. Wandert hin, solange es ihn noch gibt ... Um dem grossen Schmelzen doch noch etwas abzugewinnen: Zum Vorschein gekommene Fundstücke wie Pfeilbogen aus der Frühbronzezeit belegen, dass der Lötschenpass seit über 4000 Jahren begangen wird! 

Die Zeichen der Zeit erkannt

Dies und vieles andere mehr erfährt, wer in der Lötschenpasshütte Musse für den aufliegenden Informationsstoff findet – oder gleich Quartier bezieht, sei es im Massenlager, im Doppelzimmer oder im «Sterngucker»-Doppelbett unter freiem Himmel. Die Steingeissen aus der abweisenden Ostwand des Balmhorns, unter der wir aufstiegen, «kommen seit einiger Zeit fast täglich auf der Nordseite des Passes vorbei», lesen wir fasziniert. Nach dem einstündigen Rundgang auf dem «Fiärabndwäg» weiss man einiges mehr über Geologie, Schneehühner oder Bartgeier und ist auch mit dem Gipfelpanorama vertraut, das der Lötschenpass bietet. Thema ist natürlich auch die Hütte selbst. Dank viel «grüner» Technologie von Photovoltaik über kleine Windanlagen bis zum Lüftungsgerät, das Sonnenwärme von der Alu-Blech-Verkleidung absaugt, ist sie ein wegweisendes Pionierwerk. Kinder oder Jugendliche interessieren sich derweil vielleicht mehr für den hüttennahen Familien-Klettergarten oder den «Passzoo», bestehend aus Schweinen, Hühnern, Katzen und einem Hund. Zur Abkühlung stehen in der Umgebung ein kleiner Bergsee und an die 20 Mini-Becken zur Verfügung, eingebettet in eine blumenübersäte Felslandschaft, an der frühere Gletscher geschliffen haben. 
Mögliche Badebecken bieten beide Varianten für den Abstieg ins Lötschental. Statt bequem mit der Lauchernalp-Seilbahn hinunterzuschweben, stellen wir uns diesmal den 1300 Höhenmetern des Wegs über die Kummenalp. Was er an Sinneseindrücken bietet – allein schon die Farben des Gesteins oder der Schmetterlinge! –, wiegt allfälligen Muskelkater absolut auf. Aber ob Ferden oder Lauchernalp, ob Nord-Süd- oder Süd-Nord-Überschreitung, einfach Zeit nehme man sich am Lötschenpass: für beide Täler und für die Hütte sowieso. Zumal da ja noch das Hockenhorn (3293 m) steht, ab dem Lötschenpass in zwei Stunden erreichbar. Die erforderliche kleine Kletterei im Gipfelbereich ist eine sanfte Alpinwandern-Initiation, der damit zu gewinnende Rundblick eine Wucht. 

Urs Geiser ist Regionalnachrichten-Redaktor und liebt auto- und töfffreie Pässe. 

Praktische Informationen

Anreise mit dem Zug bis Kandersteg bzw. Goppenstein.

Ab Kandersteg Ortsbus bis Eggenschwand oder Kleinbus mit Reservationspflicht – www.kander-reisen.ch ( > Kursfahrten) – bis Waldhaus oder Selden; ab Goppenstein Postauto bis Ferden oder Wiler/Lauchernalpbahn. 

Wanderzeiten für den Aufstieg zum Pass: 
ab Kandersteg gut 6 Std., ab Selden ca. 3 1⁄2 Std.; ab Lauchernalp 2 1⁄2 Std., ab Ferden 4 Std. Bestens markiert, Schwierigkeitsgrad T3 (Hockenhorn T4). 

www.gasterntal.ch
www.loetschenpass.ch ​​​​​​​

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