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Magazine ATE récits de voyage Biasca
Urs Geiser

Vor langen Jahren, als wir erstmals von Biasca durchs Valle di Santa Petronilla aufstiegen, hoch zum Bergsee und über die Forcarella di Lago zur Cava-Hütte zuoberst im Pontirone-Tal, kannte die Route kein Pardon: Fast 2000 Höhenmeter am Stück – plus den kleinen Schlussabstieg – hatte zu bewältigen, wer unterwegs nicht privat unterkam noch draussen nächtigen wollte. Bei den Erkundungen für die im VCS-Magazin 3/2021 publizierte Wandergeschichte gingen wir davon aus, dass dem immer noch so sei.

Irrtum! Längst hatte sich da die Fondazione paesaggio Valle Santa Petronilla e Pontirone an die Arbeit gemacht. Wir hätten von Piansgéra aus bloss noch nach Compiett schlendern müssen, um festzustellen, dass hier ein Schmuckstück von Alpinunterkunft entstanden war: eine Hütte mit fünf bequemen Schlafplätzen, Holzofen, Gasherd und Solarstrom-betriebenem Kühlschrank. Via Canvasgia gefahrlos in drei bis vier Stunden erreichbar. Für einen Fünfliber kann man sich danach sogar eine Dusche gönnen.

Spartanischer präsentieren sich die restaurierten Alphütten auf Dros, Sprügh und Alpe di Lago. Aber köstlich kühles Wasser, eine Kochstelle, Matratzen oder zumindest Decken sind überall vorhanden. Die Übernachtung kostet 10 bis 15 Franken (Kinder bis 12 Jahre gratis). Damit die Herbergen im Petronilla-Tal Anklang finden, wurde auch viel in die Verbesserung oder Wiederherstellung der Zugangswege investiert.

VCS-Magazin schlägt lokalpolitische Wellen

Auf unsere Biasca-Geschichte in der Ausgabe 3/2021 hin schrieb uns Gemeinderätin Giulia Broggi eine Mail, um die Hommage an die Monti di Biasca herzlich zu verdanken. Wir hätten sie ermutigt, die anspruchsvolle Route endlich mal selbst zu begehen. Und sie habe den Artikel in den lokalpolitischen Diskurs eingebracht, um auf unausgeschöpftes Potenzial hinzuweisen: «Mein Traum ist, dass Biasca eines Tages so schön sein wird wie seine Berge.» Dass das Etikett, das wir dem Dorfbild verliehen hatten – «zählt nicht zu den Perlen des Tessins» –, passt, sei evident, doch der Sindaco habe sich mit ihrem Votum an der Gemeindeversammlung nicht anfreunden können. Giulia Broggi nahms gelassen – und wir drücken ihr die Daumen.

Wandernd über senkrechten Wänden

Inzwischen ist das Tun der Stiftung nicht mehr zu übersehen. Da, wo Wandertouren auf die Monti di Biasca beginnen, vor der neoromanischen Pfarrkirche S.Carlo, steht eine Infotafel inklusive einer Fotografie des Gebiets, in die das Wegnetz sehr anschaulich hineinmontiert ist. Kaum zu fassen, aber wahr: Nicht nur nach Nadro hinauf führt ein Steig, sondern auch durch die benachbarte, noch mächtigere, noch abweisendere Felsbastion rechts des Wildbachs Ri della Froda.

VCS Magazin Reisebericht Biasca Alp Chierisgéu
Urs Geiser
Die Alp Chierisgéu im letzten Sonnenlicht eines Spätherbsttages – und eine spektakuläre Passage auf der Negressima-Route.

«Negressima» steht auf dem weissen Wegweiser beim Oratorio Santa Petronilla. Ohne Zeitangabe. Wer die kurze Felsstufe gleich zu Beginn überwindet, hat das rein technisch Anspruchsvollste schon hinter sich. Was die Route zur Herausforderung macht, sind zum einen die mehr als 1300 Meter Aufstieg, zum andern die langen Passagen hart am Abgrund. So schwindelfrei wie die beiden grossen Buchen, die sich ausgerechnet an der abgründigsten Stelle ins Bodenlose reckten, bevor sie himmelwärts strebten, sind wir denn doch nicht. Mit Baumumarmen wirds hier definitiv nichts.

Immerhin: Strauchwerk bietet viel psychologisch willkommenen Sichtschutz, und an den meisten heiklen Stellen sind Drahtseile vorhanden, so auch dort, wo man sich mit Kunstbauten behelfen musste, um weiterzukommen. Wir mögen gar nicht daran denken, wie mühe- und gefahrvoll die Konstruktion dieser Steintreppen gewesen sein muss.

VCS Magazin Reisebericht Biasca apline Badewanne
Urs Geiser
Baumeisterkunst der Natur: die erwähnte «alpine Badewanne».

Ein Postkartensujet für einen allein

So geht es in Kehren durch die Wand, hinauf zur Raststätte Scighignéra mit ihrem atemraubenden Ausblick, später über die Matten der Alp Negressima von Hütte zu Hütte. Wo sich der Weg erstmals teilt, ziehen wir hinüber Richtung Compiett. Hier ist abermals grösste Vorsicht geboten, zumal beim Umgehen eines jüngst umgestürzten Baums. Viel sanfter und panoramareicher ist die Variante obendurch über Tònsgia und Chierisgéu. Das Preisschild dafür: mindestens 200 zusätzliche Höhenmeter, rauf und runter.

Ein Höhepunkt der Tour ist natürlich auch die Cascata Froda Longa mitsamt Planschbecken, der höchste Wasserfall im Tessin, höchst beliebt als Postkarten- und Kalenderbildsujet. In rund einer Stunde vom Bahnhof aus erreichbar, müsste er, könnte man denken, wie ein Magnet wirken. Weit gefehlt: Die natürlichen Hürden, damit ein potenziell «very instagrammable place» einsam bleibt, brauchen offenbar nicht sehr hoch zu sein.

Ein Badetag mit Ziel Froda Longa muss damit keineswegs zu Ende sein. Etwas weiter unten, kurz bevor der Bach zu einem weiteren grossen Sprung ansetzt, kann man sich in eine alpine Badewanne vom Feinsten setzen. Und die «Dorfbadi» bei der romanischen Brücke lobten wir ja schon 2021.

VCS Magazin Reisebericht Biasca Alphütte auf Sprügh
Urs Geiser
Die renovierte Alphütte auf Sprügh.

Versöhnungsangebot an den Sindaco

Zurück zur Fondazione und ihrem Sitz. Ihr am schönsten gelegenes Bauwerk, die Hütte auf Chierisgéu, dient, ach, ausschliesslich land- und forstwirtschaftlichen Zwecken. Nebst dem baukulturellen Erbe und der Tourismusförderung hat sich die Stiftung auch Landschaftspflege auf die Fahne geschrieben, man geht gegen die Verbuschung vor und leistet ganz allgemein einer Renaissance alpwirtschaftlicher Tätigkeit Vorschub. Einen Besuch sind Chierisgéu und seine Umgebung aber alleweil wert, besonders im Herbst, wenn die Lärchen in allen Gelbtönen leuchten.

Diesmal über Nadro abgestiegen, lassen wir uns zum Abschluss an einer der einladenden Ecken des Dorfkerns von Biasca nieder. Die gibt es durchaus. Und um den Gemeindepräsidenten (s. Kasten) vollends milde zu stimmen, fügen wir an: Viel lieber als nach St.Moritz, Verbier oder Grindelwald fahren wir – immer mal wieder – nach Biasca.