
Über Grate und Alpweiden
Egal, von welcher Seite man den Toggenburger Höhenweg in Angriff nimmt, und auch egal, ob man alle sechs Etappen an einem Stück wandert oder nur eine aufs Mal: Der gut 90 Kilometer lange Wanderweg von Wildhaus nach Wil überrascht überall mit wunderbaren Ausblicken.
Was für ein schöner Empfang! Bei der Alp Sellamatt durchschreiten wir das Tor «Willkommen auf dem Toggenburger Höhenweg», als ob es gleich ins Paradies ginge. Ist es vielleicht auch, aber das werden wir noch sehen. Dabei hat doch unsere Challenge schon einige Kilometer weiter im Osten angefangen. Dort, in Wildhaus, beginnt der Toggenburger Höhenweg, der in sechs Etappen und gut 90 Kilometern bis nach Wil führt – mal ganz gemächlich auf breitem Fussweg, dann wieder über schmale Grate, wo man schwindelfrei sein sollte. Ganz Ambitionierte hängen alle Etappen zusammen und übernachten jeweils in den Berggasthäusern. Wer nicht so viel Zeit – oder Ausdauer – hat, macht die einzelnen Etappen als Tageswanderung wie wir. Das lässt sich zwar nicht immer gleich gut mit der Anbindung an den öffentlichen Verkehr bewältigen, aber man muss ja nicht zwingend genau die vorgeschlagene Route unter die Füsse nehmen.
Der Einstieg in Wildhaus jedenfalls stimmt uns zuversichtlich, führt er doch ab Oberdorf zwar stetig bergauf, aber auf breitem Kiesweg Richtung Iltios. Unten sehen wir die Schwendiseen, wo gerade das neue Klanghaus am Entstehen ist und im nächsten Jahr eröffnet wird. Klänge begleiten uns ohnehin schon auf diesem Abschnitt, der gleichzeitig der beliebte Klangweg ist mit diversen Installationen wie dem Klangschalenbaum, der «Brunnenstubete» oder dem «Betruftrichter». Kaum sind wir bei der Alp Sellamatt durch das Empfangstor geschritten, gehts auf einem schmaleren Pfad weiter. Dieser führt über Alpweiden mal hinauf, mal hinab. Hier sind wir gleichzeitig auch auf dem Sagenweg, der auf Tafeln schaurige Geschichten über Berggeister und versteinerte Drachen erzählt.
«Herr der Ringe»-Stimmung
Aber wir haben schon vorher etwas viel Zeit bei den Klanginstallationen verplempert und wollen jetzt zügig weitermarschieren. Der Weg führt ziemlich nah an den beeindruckenden Churfirstengipfeln vorbei. Sie sind fast zum Greifen nah, und doch müsste man wohl noch einige Spitzkehren bewältigen, um sie zu besteigen. Wie heissen sie nur schon wieder? Selun, Frümsel, Brisi, Zuestoll, Schibestoll, Hinterrugg, Chäserrugg. Wolken umspielen ihre Gipfel, hüllen sie mal ganz ein und geben plötzlich wieder den Himmel frei. Das sieht so mystisch aus, als wäre man im Land der Elben von «Herr der Ringe» gelandet.
Als wir schon auf dem weiss-rot-weissen Bergwanderweg bei der Breitenalp wandern, sieht man gegen Westen ins Tal hinunter nach Nesslau und über die liebliche Toggenburger Hügellandschaft mit ihren Streusiedelungen. Und man erinnert sich an die Legende vom Riesen, der mit einem Sack voll Häuser durchs Toggenburg und Appenzellerland zog und dabei das eine oder andere Haus durch einen Riss im Sack verloren hatte. Da ist aber noch mehr Spannendes zu entdecken: das Wildmannlisloch, eine prähistorische, rund 150 Meter lange Karsthöhle am Nordhang des Seluns. Ganz in der Nähe liegt die Alpwirtschaft Wildmannli, wo wir einkehren. Gut genährt, inklusive eines Stücks «Schlorzifladen», machen wir uns auf den Abstieg Richtung Starkenbach. Klar, wir hätten auch bequem in die Selunbahn sitzen können. Aber diese offene Holzkistenbahn ist nicht jedermanns Sache. Da nehmen wir doch lieber die fast 700 Höhenmeter bergabwärts in Kauf.
Wir haben schon gut 2,5 Stunden in den Beinen, als wir von Ebnat-Kappel her auf dem Tanzboden ankommen, um die nächste Etappe unter die Füsse zu nehmen. Eigentlich würde der Toggenburger Höhenweg vom Wildmannli weiter Richtung Vorder und Hinter Höhi zur Oberchäseren führen und dann um den Speer herum bis zum Tanzboden. Natürlich würden wir gerne auch mal den höchsten Nagelfluhberg Europas besteigen, der eigentlich Teil der Appenzeller Alpen ist. Da aber der Abschnitt Trittsicherheit und vor allem Schwindelfreiheit verlangt, lassen wir diese Etappe aus. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Irgendwann werden wir auch diese Herausforderung angehen.
Tanzboden mit Aussicht
Nun stehen wir auf diesem kleinen Hochplateau und verstehen sehr wohl, weshalb der Ort diesen Namen trägt. Getanzt sollen hier aber weniger die Sennen haben, sondern Auer- und Birkhähne. Man hat dazu noch eine wunderbare Aussicht: vom Speer über die Churfirsten bis zum Säntis, an guten Tagen sogar bis zum Bodensee und in den Schwarzwald. Den Ober- und den Zürichsee hat man sowieso zu Füssen. Bis zur Stotzweid begleitet uns diese herrliche Aussicht. Schon bald erreichen wir den Regelstein und wundern uns, dass wir hier auf ein Kreuz zu Ehren von Felix und Regula stossen. Die beiden Stadtheiligen Zürichs sollen hier tatsächlich auf ihrem Weg aus dem Glarnerland nach Zürich vorbeigekommen sein. Ab Cholertoni führt der Toggenburger Höhenweg über gute, breite Wege bis zum Ricken durch den Wald. Nichts also mit Aussicht, dafür überrascht uns ein Reh, das uns vor der Nase durchhuscht. Auf dem Pass angekommen, nehmen wir das Postauto hinunter nach Wattwil.
Für unsere dritte Etappe steigen wir bei der Chrüzegg ein, die man in einer guten Stunde ab dem Atzmännig erreicht. Hier verläuft ein Geoweg, der uns darüber aufklärt, wie das hügelige Toggenburg geologisch entstanden ist. Der Toggenburger Höhenweg macht schon bald seinem Namen alle Ehre: Man wandert zwar oft auch durch den Wald. Doch kaum geht’s wieder hinauf auf einen Gipfel wie etwa dem Habrütispitz oder die Schindelberghöchi, bekommt man die herrliche Aussicht serviert. Immer wieder müssen wir einfach stehen bleiben, weil das 360-Grad-Panorama über die liebliche Landschaft so wunderbar ist.

Ein geteilter Gipfel
Bald haben wir den höchsten Gipfel des Kantons Zürich, das Schnebelhorn mit 1292 Metern über Meer, erreicht, hier wieder auf weiss-rot-weissem Weg. Wir sind nicht alleine, doch der grosse sechseckige Holztisch mit Bänken bietet viel Platz. Der Grenzstein markiert, dass sich die Zürcher den Gipfel mit den St.Gallern teilen müssen. Deshalb verstehen wir jetzt auch, weshalb einige Wanderweg-Zeichen blau-weisse Signete haben: Wir sind nämlich gleichzeitig auf dem Züri-Oberland-Höhenweg unterwegs.
Schön, dass es um das Schnebelhorn gleich eine Reihe von Einkehrmöglichkeiten gibt wie etwa die Meiersalp, die wir ansteuern und unseren Magen mit einem köstlichen Wurst-Käse-Salat füllen. Schliesslich gehts jetzt bis zum Etappenziel Hulftegg nur noch bergab. Doch zeitweise verläuft der Weg auf Nagelfluhfelsen über einen schmalen Grat wie bei der Hirzegg. Zum Glück wachsen links und rechts Bäume und Sträucher, sodass man nicht allzu sehr in die Tiefe sieht. Aber eben, es heisst ja Toggenburger Höhenweg. Da darf etwas Aussicht schon sein.
Anreise: mit den SBB nach Nesslau und dem Postauto bis Wildhaus Lisighaus oder ab Wil. Toggenburger Höhenweg: 6 Etappen, 90,5 Kilometer, 4450 Höhenmeter im Aufstieg, 4960 im Abstieg und 35 Stunden Wanderzeit. Zwischen Wildhaus und Tanzboden vorwiegend auf Bergwegen, anschliessend auf Wanderwegen. Übernachtungsmöglichkeiten unterwegs sind vorhanden. Man kann den Weg auch in einzelne Tageswanderungen aufteilen, es führen immer wieder Wege und Bahnen ins Tal zum nächsten Verkehrsmittel.
- Wildhaus–Vordere Selupalp, 4h 35min
- Vordere Selunalp–Oberchäseren, 5h 40min
- Oberchäseren–Tanzboden, 3h 15min
- Tanzboden–Chrüzegg, 5h 15min
- Chrüzegg–Mühlrüti, 4h 15min
- Mühlrüti–Wil, 5h 45min
Karte: 1:50000 Wanderkarte Toggenburg–Appenzellerland oder 1:25 000 Wanderkarte Mittleres
Toggenburg–Gasterland, Obertoggenburg–Alpstein und Wil–Wattwil
Ideale Wanderzeit: Juni bis Oktober