Von den Schätzen Nordwestitaliens
Unter der Erdoberfläche des Piemonts versteckt sich weisses Gold, verborgen in der «kleinen Hölle» ruht erstklassiger Wein. Signifikante Bauten erzählen uns von längst vergangenen Zeiten.
Angrenzend an die Schweiz und Frankreich liegt das Piemont, die grösste Region des italienischen Festlandes. Die Anreise ist unkompliziert, in Milano steigen wir um. Als sich unser Regionalzug seinen Weg tiefer ins Land hineinbahnt, stöbern wir durch einen ausführlichen Reiseführer. Wir lesen von unzähligen verwunschenen Ortschaften und schauen uns Bilder von bedeutungsschweren Gebäuden an. Cella Monte, auch bekannt als einer der «schönsten kleinen Orte Italiens», haben wir als unser erstes Ziel deklariert. Hier treffen wir Rosa. Ihr weisses Haar umrahmt ihr freundliches Gesicht wie zwei seidene Vorhänge, der strahlend blaue Lidschatten passt zu ihrem lebendigen Charakter. Die gebürtige Italienerin erzählt uns auf Deutsch in der Geschwindigkeit eines reissenden Bergflusses von der Landwirtschaft des Piemonts. Die Weinproduktion ist zentral, auch die Milchwirtschaft sei schon immer wichtig für die Region gewesen.
Wein und Kalkstein
Am Ende der schmalen Hauptstrasse liegt das Ecomuseum mit einem originalen «Infernot»: Eine für das Piemont typische, unterirdische Kammer, die zur Lagerung von Wein dient und als UNESCO-Kulturerbe verzeichnet ist. Wir steigen eine steile Treppe hinunter in die «kleine Hölle». Es ist kühl, die Luft riecht erdig. Feine Wurzeln haben sich ihren Weg den rauen Wänden entlanggebahnt. In den Regalen – direkt in den harten Kalkstein geschlagene Aushöhlungen – stehen staubige, kurvige Flaschen mit langen Hälsen und vergilbten Etiketten. Einige von ihnen sind über 125 Jahre alt. Die Lagerungsbedingungen sind ideal. Die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur bleiben das ganze Jahr über gleich, egal ob draussen Nebelschwaden über das Land ziehen oder ob die italienische Sommerhitze brennt. Rosa klärt uns über das frühere Leben der Arbeiter und Weinbäuerinnen auf. Die Männer gruben die «Infernot» im Winter, wenn die Rebenfelder weniger Aufmerksamkeit verlangten. Den aus der Erde gewonnenen Kalkstein nutzten sie zur Errichtung der Häuser und formten die piemontesische Architektur, wie wir sie bestaunen können, als wir aus dem Museum heraus an die frische Luft treten.
Rosa schwärmt von Angelo Morbelli. Der sozialkritische Vertreter des Divisionismus setzte sich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch schwungvolle Pinselstriche mit dem Alltag der Arbeiterklasse auseinander.
Eine gute Nase bitte
Von der Arbeiterklasse zur High Society: Das Furore um eines der teuersten Lebensmittel der Welt zieht uns weiter nach Alba, dem Hauptort der Weinregion Langhe. Wir wollen mehr erfahren über den heissbegehrten weissen Trüffel. Im «Museo del Tartufo di Alba» lernen wir so einiges: Der knollenförmige Pilz wächst unter der Erde, in feuchten Böden unter Linden, Weiden, Eichen und Pappeln. Trüffeljägerinnen und -jäger machen sich nachts zwischen Oktober und Silvester gemeinsam mit ihren Hunden auf in die Ungewissheit des Waldes. In der ungestörten Dunkelheit können sie die Trüffelfundorte als Geheimnis bewahren. Eine Fotoserie von Steve McCurry zeigt die Jägerinnen und Jäger und ihre Hunde – deren Beziehung ist ausschlaggebend für eine erfolgreiche Suche.
Die grosse Bedeutung des Trüffelhandels geht weit in die Vergangenheit zurück, die Sammlerinnen und Händler verstanden den Wert der knollenförmigen Köstlichkeit schnell. Als Geschenk von unschätzbarem Wert diente die Delikatesse in früheren Zeiten sogar als diplomatisches Mittel. Der Graf von Cavour nutzte den Pilz als Weg, um politische Verbindungen mit anderen europäischen Führern zu knüpfen. Im November und Oktober ehrt Alba den Weissen Trüffel jährlich an einer beliebten Herbstmesse.

Keine Freude für Feinde
Unser Zug gleitet von Alba aus durch die karge Februarlandschaft, wir steigen in Monticello d’Alba aus. In rund dreissig Minuten zu Fuss erreichen wir das Castello Roero. Es ist ein steiler Aufstieg. Das mittelalterliche Schloss aus dem Jahr 1376 posiert schwer und klobig auf dem Hügel – in einer der vier Ecken einen kantigen, in einer anderen einen eckigen Turm. Keine Freude für Feinde, so wie auch das Schild «Attenti al cane», was so viel heisst wie «Vorsicht vor dem Hund». Auf dem Grundstück lebt ein irischer Wolfshund, eine der grössten Hunderassen. Mit dabei: die Adelsfamilie Roero di Monticello. Ihre Vorfahren erlangten die Herrschaft über das Lehen – ein Stück Land – der Bischöfe Astis und errichteten die Festung zur Verteidigung der Landesgrenzen.
Ein Kräutergarten wie aus dem Märchen umrundet den Prachtbau, ein kleines Restaurant lädt zum Verweilen ein. Eine E-Bike-Ladestation guckt aus dem Boden heraus, das Ausflugsziel eignet sich für eine Tour.
Im «Castello» ist es kühl. Golden eingerahmte Vorfahren des Conte und der Contessa schauen uns neugierig dabei zu, wie wir an antiken Möbeln vorbei von Raum zu Raum schreiten. Bunt und staubig sind die uralten Theaterpuppen – ein Zeitvertreib der mittelalterlichen Adligen. Wir spähen durch die Fenster – mittlerweile guckt die Sonne zwischen den grauen Wolken hervor –, das Land dehnt sich aus wie ein endloses Meer aus mattem Wintergrün und sanften Beigetönen.
Die Stadt der hundert Türme
In Asti bleiben wir dem Mittelalter auf der Spur. Es ist ein ruhiger Tag, was nicht nur an der Saison liegt. Das Reiseziel ist weniger touristisch als die rege besuchten Strandortschaften und die pulsierenden Kunst- und Modemetropolen Italiens.
Wir schlendern über den grauen Pflasterstein, ein backsteinroter Turm springt uns ins Auge. Er sieht aus, als wäre er die klischeehafte Vorlage einer Kinderbuchautorin, die einen Drachen um ihn kreisen lässt. Uns werden noch einige weitere solcher Türme begegnen, einige schlicht und massiv, andere schnörkelig. Sie sind Zeugen eines vergangenen Ruhms. Als erstes echtes Bankzentrum war Asti zwei Jahrhunderte lang die reichste Stadt Europas. Die Bankhäuser liehen den Königen Geld und finanzierten Kriege und Kreuzzüge. Unzählige wohlhabende Familien demonstrierten ihre Macht und ihren Reichtum durch einen eigenen Turm. Ein Grossteil der Gemäuer fiel im Laufe der Geschichte den Machtkämpfen der rivalisierenden Familien zum Opfer.
Im hektischen Mailand warten wir auf unseren Zug und vermissen bereits die mystische Ruhe, als wir im vernebelten Asti über den Vorplatz der Kathedrale Santa Maria Assunta e San Gottardo spazierten.
- Der Palazzo Mazzetti ist ein Barockpalast in Asti, der seinen Namen einer der einflussreichsten Familien der Stadt zu verdanken hat. Heutzutage beherbergt er die städtische Kunstgalerie.
- Castello di Uviglie ist eines der ältesten Weingüter Piemonts. Hier wachsen die berühmten Rebsorten Barbera, Grignolino und Albarossa.
- Ein Abstecher nach Olivola ist lohnend, eine winzige Perle im Monferrato-Gebiet. Wer Luxus mag, speist am besten in der Villa Guazzo Candiani.