Velowende: Interview mit Ursula Wyss und Michael Liebi
Es braucht die «Velowende». Davon sind die Ökonomin und ehemalige Nationalrätin Ursula Wyss und Michael Liebi, Raumund Verkehrsplaner, überzeugt. Die beiden haben das gleichnamige Buch mitverfasst und sprachen mit dem VCS-Magazin über ihre Analysen und Visionen.
Ursula Wyss, Michael Liebi, Ihr Buch «Velowende» setzt sich mit Ansätzen auseinander, wie mehr Menschen überzeugt werden können, Velo zu fahren. Wer soll es lesen?
Michael Liebi: Alle, die an der räumlichen Entwicklung ihrer Stadt oder ihrer Gemeinde interessiert sind. Wir haben es nicht bloss für Fachleute oder politisch Interessierte geschrieben.
Ursula Wyss: Wenn genügend Leute Velo fahren, werden die Strassen, die Städte ganz anders. Das nützt allen. Darum richtet sich das Buch nicht nur an Velofahrende oder Velointeressierte.
Sie beleuchten den Ist-Zustand in der Schweiz und in Deutschland, als Vergleich dienen oft die Niederlande oder Dänemark. Wo steht die Schweiz in Bezug auf die geforderte «Velowende»?
W.: Um die Velowende zu erreichen, sprechen wir in den Städten von Veloanteilen von 40 bis 60 Prozent. Damit wird eine Stadt anders. Bei 15 oder 20 Prozent dominiert weiterhin das Auto und bestimmt das städtische
Leben.
Das entspricht etwa dem Veloanteil der Stadt Bern …
W.: Insbesondere die Quartiere sind immer noch stark Auto-dominiert. Das hat zur Folge, dass nur diejenigen mit dem Velo unterwegs sind, die sich mit dem Autoverkehr arrangieren können. Die anderen – sprich Kinder, Ältere und solche, die mehr Bedürfnisse an die Sicherheit haben – werden verdrängt. Aus diesem Grund nehmen wir den Ansatz «8 bis 80» oder den «Laura-Test» in unserem Buch so prominent auf.
Wer ist Laura?
L.: Laura ist elf Jahre alt. Sie würde in ihrer Stadt Velo fahren, kann es aber nicht, weil es gefährlich ist oder man sie nicht lässt. Die fiktive Laura steht stellvertretend für alle, die mehr Sicherheit benötigen. Wir wissen aus Untersuchungen, dass das Potenzial Interessierter riesig ist, zwei Drittel der Menschen in der Schweiz besitzen ein Velo.
W.: Die Schweizer Velogeschichte ist geprägt vom weltweit angewendeten Konzept des «vehicular cyclist». Es stellt das Fahrzeug Velo ins Zentrum, ein minderwertiges Auto auf zwei Rädern. Drauf sitzt typischerweise ein fitter und mutiger Mann. Ein einziges Land ist in den letzten 40 Jahren gegen diesen Strom geschwommen: die Niederlande. Grund dafür waren Bürgerproteste in den 1970er-Jahren, die die Strassen für sich und ihre Kinder reklamiert haben. Darum ist die niederländische Stadt- und Verkehrsplanung von den Menschen und nicht von den Fahrzeugen ausgegangen. Und darum referieren wir so stark darauf.
Unterscheiden sich die Bedürfnisse ländlicher Gebiete für die «Velowende»?
L.: Sie sind überall ähnlich. In Städten wie Bern, Basel oder Zürich haben wir genügend breite Strassen, um die Probleme mit einer Flächenumwidmung zu lösen. Auf dem Land müssen mehr Radwege (aus)gebaut werden. Das gewünschte Ergebnis ist aber dasselbe. Was in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, ist die Kombination von Velo und Zug. Natürlich muss man nicht mit dem Velo von Bern nach Olten pendeln. Ein Teil des niederländischen Erfolgsmodells ist die Verknüpfung: Über 50 Prozent aller Bahnkundinnen und -kunden fahren mit dem Velo zum Bahnhof. In der Schweiz leben weit über 90 Prozent der Bevölkerung im Umkreis von fünf Kilometern um einen Bahnhof. An der Kombination von Velo und Zug müssen wir stark arbeiten.
22 000 Leihvelos an niederländischen Bahnhöfen wurden sechs Millionen Mal pro Jahr ausgeliehen – eine beeindruckende Zahl!
W.: Das Schweizer Veloverleihsystem «Publibike» erlebt ebenfalls ein enormes Wachstum, aber in den Niederlanden gehen die Zahlen durch die Decke. Das ist der Hebel, damit wird das Velo zu einem nationalen Verkehrsträger und als gleichwertiges Transportmittel in die Verkehrsplanung einbezogen.
Wir müssen daran glauben, dass der Veloanteil 40 oder 50 Prozent erreichen und damit Städte verändern kann.
Sie sprechen in Bezug auf die Velowende von drei Vs. Nummer eins ist die Veränderung.
L.: Die Veränderung wollen! Das beginnt damit, wie wir die Geschichte erzählen und welche Ziele wir uns setzen. Das ist eine Erfahrung, die ich aus Bern mitnehme. Wir müssen daran glauben, dass der Veloanteil 40 oder 50 Prozent erreichen und damit Städte verändern kann. Wir haben oft im Kleinen von Veloförderung gesprochen: hier ein wenig ausbessern, da eine Markierung ändern. Eine übergeordnete Vision fehlte.
W.: Jetzt ist ein guter Moment. In Städten, die dichter und heisser werden, ist aus einer verkehrspolitischen Diskussion eine Raumdiskussion geworden. Daraus ergeben sich Allianzen, die in der Vergangenheit nicht möglich waren: Für mehr Grünraum und Aufenthaltsqualität braucht es platzsparende Verkehrsmittel.
Das zweite V steht für Vielfalt.
L.: Das ist eine Veränderung im Vergleich zu dem, was wir in den vergangenen 30 Jahren gemacht haben. Aus dem Ansatz des «vehicular cycling» ist ein grosses Missverständnis bei der Infrastrukturplanung entstanden. Das Velo hatte seinen Platz auf der Strasse – wo möglich wurde ein Velostreifen markiert, aber selbst dafür hat es oft nicht gereicht. Es ist die Geschichte des fitten, männlichen Velofahrers. In den Niederlanden ist es die ganze Gesellschaft, Leute mit unterschiedlichsten Fähigkeiten. Hier sagt man von ganz vielen Menschen, sie seien aufs Auto angewiesen. In den niederländischen Städten sieht man, dass das nicht stimmt. Wir müssen den Wandel in dieser Vielfalt denken. Dann sprechen wir anders übers Velofahren.
Wie bringen wir die Leute dazu, ihren inneren Widerstand zu überwinden, schliesslich ist Velofahren auch anstrengend?
W.: Wir haben eine Epidemie an Bewegungslosigkeit. Kampagnen animieren dazu, sich zu bewegen. Dass Bewegung integrierter Bestandteil des Alltags sein kann, ist aber kein Thema. Man bekommt den Eindruck, dass man Leute, die sich das nicht zutrauen, nicht in den Strassenraum lotsen darf. Der Strassenraum, den wir uns vorstellen, soll hingegen so einladend sein, dass man keine Angst haben muss und man es sich auch körperlich zutraut. Michael hat die Vielfalt in den Niederlanden erwähnt. Neben den Jugendlichen sind die älteren Menschen anteilmässig am häufigsten auf dem Velo unterwegs. Sie machen es, weil es ihnen guttut. Wenn die Leute ihresgleichen auf dem Velo sehen, ist das die beste Werbung überhaupt.
Kommen wir noch zum dritten V: die Verantwortung.
W.: Darin unterscheidet sich das bisherige schweizerische vom niederländischen System: Hier wird suggeriert, dass ich selbst für meine Sicherheit verantwortlich bin – und damit auch, wenn etwas schiefgeht. Das Gegenkonzept ist die verantwortliche Infrastruktur. Sie weiss, dass Menschen unterwegs sind, die Fehler machen – auf dem Velo und im Auto. Also kann die Infrastruktur diese Fehler voraussehen. Wir müssen weg von Mahnfinger-Kampagnen hin zu sicherer Infrastruktur. Wenn unsere Kinder in den Städten nicht Velo fahren können, sind nicht die Kinder Schuld, sondern die politisch Verantwortlichen.
L.: Wir sprechen von einer Hierarchie der Lösungen. Zuerst überlegt man, wie man die Gefahr bannen kann, bevor man dem Individuum sagt, wie es sich verhalten soll. Das Gefährdungspotenzial resultiert aus Masse mal Geschwindigkeit. Also muss man die Geschwindigkeiten anpassen und die räumliche Trennung von schweren Fahrzeugen angehen. Natürlich kann am Schluss persönliche Ausrüstung Sinn ergeben. Licht ist ein gutes Beispiel dafür. Sie darf aber nicht die Ausgangslage der Überlegungen bilden.
Verbände wie der VCS möchten die Menschen zum Velofahren animieren und gleichzeitig ist es ihre Aufgabe, Mängel zu benennen. Wie können wir mit diesem Dilemma umgehen?
W.: Ich vertrete die Haltung, dass man die Vielfalt potenziell velofahrender Menschen zeigen und fördern und gleichzeitig höhere Ansprüche an die Infrastruktur haben muss. Mit der Umsetzung des Veloweggesetzes befinden wir uns in einem Schlüsselmoment. Viele Kantone definieren ihre Standards immer noch mit gestrichelten Linien am Strassenrand. So erreichen wir nicht, dass Ungeübtere aufs Velo steigen. Ich erwarte vom VCS und auch von Pro Velo, dass sie sich für echte und sichere Infrastruktur für alle einsetzen.
Im November kommt das Referendum gegen den Autobahn-Ausbau an die Urne. Jüngst argumentierte ein Befürworter, dass es dank zusätzlicher Kapazitäten auf Autobahnen mehr Platz in den Städten für den Veloverkehr geben würde?
W.: Es gibt Gesetzmässigkeiten, damit beginnt auch unser Buch: Baut man Infrastruktur für Autos, kommen Autos. Baut man Infrastruktur für Menschen, kommen Menschen. Dass dem so ist, belegen knapp 100 Jahre Erfahrung. Es gibt kein Beispiel, bei dem das Gegenteil passiert ist.
Aber trotzdem wird damit argumentiert …
W.: Wir leben in einer Welt, die vom Auto dominiert ist. Wir sind heute so weit, dass sich viele eher eine Welt ohne Menschen als eine Welt ohne Autos vorstellen können.