An Schottland schönsten Lochs
Weit weg von lärmenden Städten und vom Tourismus geprägten Orten schlängeln sich wilde Wege durch Heidelandschaften und Kiefernwälder: Willkommen im Cairngorms-Nationalpark, einem stillen Naturjuwel im Herzen Schottlands.
Weder die Insel Skye noch das Viadukt, das bei der Darstellung von Harry Potters Hogwarts-Express Pate stand, noch neblige Gestade von Loch Ness haben Eingang in unsere Ferienfotosammlung gefunden. Dabei waren sie uns als Erste eingefallen, als wir typisch schottischen Pfaden folgen und jene Orte aufsuchen wollten, um die sich all die Legenden ranken, die durch unsere Vorstellungen geistern. Bei den Reiserecherchen stellte sich heraus, wie weiträumig und reich die schottischen Landschaften sind.
Mit dem Zug nach Schottland
Wer eine Region auf dem Schienenweg entdecken will, beugt sich über eine Karte und stellt sich aufgrund der Linien, Fahrpläne und Verbindungen ein Programm zusammen. Schliesslich steht fest: Es geht in den Cairngorms-Nationalpark im Zentrum der Karte. Aviemore ist von Edinburgh aus in wenigen Stunden zu erreichen und für Touristinnen wie uns ein idealer Einstieg. Durch das Zugfenster schiessen wir sepiafarbene Fotos von der wild wuchernden Vegetation, die sich über Hügelkuppen und bis hinunter zu schwarz dahinziehenden Flüssen ausbreitet. Hinter Tälern tauchen erste höher aufragende Berge auf, die Cairngorms-Kette, die dem Nationalpark seinen Namen gab.
Die Landschaft hier ist ganz anders als im restlichen Schottland. Mancherorts gibt es Überbleibsel des Caledonian Forest, in dem Eichhörnchen, Haubenmeisen und Marder ihr Zuhause haben. Auf der Cairngorms-Hochebene befindet sich auch die grösste Tundra des Vereinigten Königreichs.
Seen entdecken
Die Cairngorms ziehen sommers wie winters Wanderfreunde und Naturliebhaber an. Von den windigen Ebenen bis zu den entferntesten Gipfeln ist der Park ein Seenparadies. Vier davon haben wir ausgewählt und aufgesucht: Loch an Eilean, Loch Morlich, An Lochan Uaine und Loch A’an. Der zuletzt erwähnte liegt hoch oben in den Bergen und ist das ambitionierte Ziel einer langen Wanderung, zuerst kommen allerdings die einfacher zugänglichen an die Reihe.
Loch an Eilean liegt im Rothiemurchus-Wald und ist wegen der Insel mit Burgruine bekannt. Von Aviemore aus ist der See zu Fuss in etwa einer Stunde zu erreichen. Taucht man in den Wald ein, staunt man erst einmal über das violett blühende Heidekraut, das der Szenerie einen surrealen Touch verleiht. Die Burginsel ist vom Ufer von Loch an Eilean aus gut zu erkennen. Es lohnt sich, den ein paar Kilometer langen Weg rund um den See unter die Füsse zu nehmen. Er bietet immer wieder schöne Ausblicke durch den Wald auf das Wasser, die Insel und die umliegenden Berge.

Badestrand und Wichtelmänner
Auf dem Weg in die Berge empfiehlt es sich, bei Loch Morlich einen Zwischenstopp einzulegen. Der See hat lange Sandstrände. Bei unserem Besuch war das Wetter schlecht, die Strände waren leergefegt. Bloss ein paar festgezurrte Boote schaukelten im Takt der Wellen auf und ab. Leise Regentropfen fielen auf die Picknicktische und liessen den Sand unter unseren Füssen hart werden.
Zu An Lochan Uaine, dem grünen See, führt der Weg durch den Glenmore Forest Park. Es geht ein paar Kilometer bergauf, bis man das kleine Juwel erreicht. Seine smaragdgrüne Farbe dürfte von den Algen herrühren, die sich im Wasser befinden. Verführerischer klingt allerdings die Legende, wonach Wichtel ihre Wäsche im See wuschen und er dabei seine Farbe erhielt.
Höher hinaus
Unsere drei ersten Seen befinden sich am Fuss der Cairngorms-Kette, deren Gipfel einzigartige Landschaftserlebnisse versprechen, aber auch entsprechende Anforderungen an unser Durchhaltevermögen stellen. Loch A’an steht für eine typische Cairngorms-Szenerie: ein riesiger Talkessel, dessen düstere Felsmassen auf einen glitzernden Seespiegel hinunterblicken.
Frühmorgens besteigen wir den Aviemore Adventurer, der die Kleinstadt mit dem Cairngorms-Skigebiet verbindet. Um ihr Ticket zu lösen, sagen die paar wenigen Mitreisenden beim Einsteigen zum Busfahrer bloss: «To the mountains, please!» Im Lauf der zwanzigminütigen Fahrt wechselt das Wetter; auf einmal klatscht Regen an die Scheiben und bildet kleine Rinnsale, welche die Landschaft im Hintergrund verzerren.
Die Busendstation befindet sich beim Basislager der Rangers. Dort beginnt auch der von Heidesträuchern gesäumte Wanderweg. Unter der schweren Wolkendecke erscheinen die Cairngorms als monochrome, fahle Hügel. Erst wenn man unterwegs ist, wird die bezaubernde Vegetation in ihren subtilen Farbschattierungen erkennbar. Das bisschen Regen schadet dem Landschaftserlebnis nicht, im Gegenteil.
Regenbogen und Ptarmigan
Auf einmal lassen die Schauer ein wenig nach, wir blicken zurück und sehen nicht nur Loch Morlich, sondern darüber auch noch einen Regenbogen in leuchtenden Farben. Weit vor uns erscheint in der Felswand das feine Band, auf dem wir bald aufsteigen werden. Der Weg ist steil, rutschig und steinig.
Hinter dem Grat tauchen wir in ein weites, vom Wind gefegtes Hochmoor ein. Unsere Schritte federn über den schwammigen Boden, wir retten uns auf feste Grasbüschel und springen von Stein zu Stein durch das schier endlose Nass. Schliesslich erreichen wir den Rand des Abgrunds, von dem sich ein Pfad zu unserem Ziel hinunterschlängelt: Tief unten zeichnen sich der Seespiegel und seine ausfransenden Ränder ab. Noch während des Abstiegs reisst die Wolkendecke auf einmal auf, und der türkisfarbene See zeigt sich in seiner ganzen Pracht.
Entlang des Sees ist der Weg durchnässt, wir kommen nicht besonders schnell voran. Wir bewundern das Naturschauspiel und hören auf einmal ein sonderbares Geräusch: Ein Vogel in grauem Federkleid huscht zwischen den Felsen durch und scheint nicht eben geneigt, vor uns davonzufliegen. Es handelt sich um ein Ptarmigan, also das für die Cairngorms so typische Schneehuhn.
Wir gehen nun dem Kamm entgegen und wenden unseren Blick ab und zu zurück, um zu beobachten, wie die Berge den See quasi verschlucken. Vor uns liegt noch ein letzter Abstieg auf einem breiten Waldweg bis zum Basiscamp der Rangers.
Anreise: mit dem Eurostar nach London, dann London–Edinburgh und Edinburgh–Aviemore. Wer Schottland bereisen möchte, besorgt sich mit Vorteil einen Touristenpass wie den «Spirit of Scotland», mit dem man mehrere Tage freie Fahrt hat. Informationen: www.scotrail.co.uk
Übernachten: Das Ravenscraig Guest House hat uns freundlich und tadellos empfangen: www.ravenscraighouse.co.uk
Lesetipp: «The Living Mountain» der Autorin und Dichterin Nan Shepherd. Sie kennt die Cairngorms wie ihre Westentasche.