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Die vier Seen Wanderung
Camille Marion

Wie schön das ist. Und welch Freude, die Berge in dem Moment zu ertappen, in dem sie durch die üppige Fülle ihrer Flora am meisten blenden. Das geht mir durch den Kopf, während mein Blick durch das Fenster der kugelförmigen Gondel schweift, die nach Melchsee-Frutt hinauffährt. Ich bin ganz am Ende des Melchtals auf der Stöckalp gestartet, wo sich die Endstation des Postautos befindet, der vom Bahnhof Sarnen kommt. 

Jetzt komme ich in dem kleinen Weiler an, der auf 1920 Metern Höhe liegt. Im Winter ist es ein Skigebiet, im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel für Familien. Ich überquere den hölzernen Spielplatz der Melchsee-Frutt, gehe an einigen Chalets und Hotels vorbei und erreiche den See. Der Himmel ist verhangen. Dicke Wolken ziehen über das spiegelglatte Wasser. Fern der Hitzewelle, die seit Tagen das Flachland erstickt, geniesse ich die Frische dieses Anblicks, welche Erinnerungen an Schottland wachruft. Der See ist weit und wird von dunkelgrünen Weiden gesäumt. Etwas weiter schmückt eine steinerne Kapelle sein Ufer. 

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Camille Marion

Ich folge der Etappe 3 der Route 88 von Schweiz Mobil, die entlang der Seen Melchsee, Tannensee, Engstlensee und Trüebsee bis ins Dorf Engelberg auf der anderen Seite des Kamms führt. Es ist ein sehr beliebter Weg, an welchem viel los ist an diesem Julimorgen: einige Familien, Rentner*innen karierten Hemden, Gruppen von Freund*innen in bunten Outfits… 

Der grosse Vorteil dieser Wanderung ist seine Zugänglichkeit und Variabilität. Viele Wege durchziehen die Landschaft und ermöglichen es, die ideale Route selbst zusammenzustellen. Man kann sich auch mit einem oder zwei Seen begnügen und dann zur Melchsee-Frutt zurückkehren, um die Gondel zu nehmen. Ich selbst habe jedoch nicht vor umzudrehen – es braucht vier Seen, um meinen Durst nach dieser Region zu stillen. 

Ich gehe am Melchsee entlang in Richtung der Kapelle und biege dann in die Weiden ab. An den Felswänden zu meiner Linken ziehen Kletterrouten viele Menschen an. Ich beobachte die winzigen Silhouetten, die sich vom grauen Felsen abheben, während ich einer Kuhherde begegne. Kaum liegt der erste See hinter mir, erkenne ich schon den nächsten. Der Tannensee liegt langgestreckt in einem fast flachen Tal. Baden ist zwar verboten, dafür ist Angeln erlaubt. In regelmässigen Abständen sitzen Fischer am Ufer, geduldig und in Gespräche vertieft. Die Strasse ist asphaltiert und ideal für Fahrräder sowie für den kleinen Touristenzug, der um diesen und den vorherigen See herumkurvt. 

Ich überquere die höchsten Weiden des Kantons Obwalden, umgeben von Dutzenden Kühen, deren Glocken den Soundtrack meines Tages bilden. Nach der Kapelle auf der Tannalp halte ich bei einer Alpkäserei an, um eine kulinarische Erinnerung dieses Ortes mit nach Hause zu nehmen. Chalets, Schweizerfahnen, ein plätschernder Wasserfall und Kühe, die das saftige Gras am Fuss der Berge fressen… Man glaubt gerne, dass Postkarten oder soziale Medien übertreiben – aber hier sieht die Schweiz wirklich aus wie ihr eigenes Klischee. 

Nebelspiel

Der Abstieg zum dritten See ist atemberaubend. Ein dünner Nebel steigt aus dem Tal auf, getragen von kaum spürbaren Luftströmen. Der vom Grün überwucherte Pfad verschwindet in den Schwaden und taucht im nächsten Moment wieder im Sonnenlicht auf. Ich bin fasziniert und unendlich glücklich, hier zu sein – dankbar für meine Beine, die mich tragen, und meine Augen, die das Schauspiel aufnehmen. 

Der schmale Weg führt an der Hangflanke entlang, überquert die Berner Grenze und steigt dann wieder zum Weiler Engstlenalp auf, kurz vor dem gleichnamigen See. Ein Hotel empfängt hier seit Ende des 19. Jahrhunderts Durchreisende. Dies verrät mir seine rosafarbene Fassade mit einer alten Beschriftung. Im Garten trocknen sonnengelbe Bettlaken an der frischen Luft. 

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Camille Marion

Ich betrete das Naturschutzgebiet, das den See umgibt. Man muss etwas aufsteigen, um seine ganze Fläche zu erblicken, die vom leichten Wind gekräuselt wird. Der Engstlensee liegt am Fuss des Titlis, dessen 3200 Meter hoher Gipfel heute von Wolken umschlungen ist. 

Ich beginne den Aufstieg in Richtung Jochpass, den anstrengenderen Teil der Wanderung, den man aber auch mit dem Sessellift erklimmen kann. Ich gehe gemächlich und bleibe oft stehen, um mich umzudrehen und die Aussicht zu geniessen. Ständig verändert das Wolkenspiel im Himmel die Farbe des Sees – mal tiefschwarz, mal türkisblau. Wie schön das ist! Und wie steil es hier hinaufgeht! 

Ein Pass und ein letzter See

Endlich erreiche ich den Jochpass und die frische Luft auf 2200 Meter Höhe. Ich müsste jetzt im Kanton Nidwalden sein. Der Pass ist teilweise noch mit Schnee bedeckt, den der Sommer bald beseitigen wird. Auf der Passhöhe bietet sich – bei einem Hotel-Restaurant am Ufer eines kleinen Sees – eine Pause an. Na gut, dieser zählt als 3,5 auf meiner Liste!

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Camille Marion

Von hier aus bleibt nur noch ein langer Abstieg zum letzten See, dessen Umrisse ich schon erkennen kann, eingekerbt in eine weite Hochebene weiter unten. Der Trüebsee scheint nah, doch es warten noch einige Serpentinen. Die letzten Kilometer sind nicht die angenehmsten – lose Steine und glatte Felsen sind tückische Fallen. Ich bin gespannt, endlich das Ziel zu erreichen, bleibe aber konzentriert, um nicht zu stürzen. Einige Menschen kommen mir entgegen, die die Route in umgekehrter Richtung gehen – das scheint mir deutlich ambitionierter als mein eigener Weg, der mir das perfekte Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Staunen bietet. 

Am Ufer des Trüebsees herrscht das Paradies für Familien und Tourist:innen. Spielplätze, Seilrutschen, Trampoline und andere Kinderaktivitäten befinden sich am Ufer. Man kann sich vom lauten Treiben entfernen, indem man ein Boot mietet. Ich entscheide mich für die Gondel, um nach Engelberg hinunterzufahren. Ich notiere mir im Vorbeigehen den Vorteil des Reisens mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Man muss sich nicht auf Rundwanderungen einschränken, da am Ende des Wegs immer ein Zug oder Bus wartet. 

Nützliche Informationen

▪️ Route: Melchsee-Frutt – Engelberg, Route 88 folgen 
▪️ Länge: 15 Kilometer 
▪️ Höhenunterschied: ↗ 620 Meter, ↘ 760 Meter 
▪️ Schwierigkeitsgrad: mittel 
▪️ Details: siehe SuisseMobile 

Camille Marion
VCS
Über die Autorin

Camille Marion ist Co-Redaktionsleiterin des VCS-Magazins. Auf ihrem Reiseblog «Lève l'encre» teilt sie ihre Reiseberichte über die Landschaften der Schweiz und anderer Länder.

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