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Atzeusier
Camille Marion

Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber ich persönlich habe meinen Geist noch nicht in den Herbstmodus umgestellt. Ich mag diese Jahreszeit, ja, aber ich bin einfach noch nicht bereit. Neulich habe ich über das hervorragende Magazin Bulletin das Konzept von «Nagori» entdeckt. Dieses unübersetzbare japanische Wort bezeichnet die Sehnsucht nach dem, was vergeht, insbesondere die nostalgische Wehmut über das Ende einer Jahreszeit. Es wird mit den beiden Schriftzeichen «名残» geschrieben, was wörtlich und poetisch «Rest der Wellen» bedeutet. 

Genau dort befinde ich mich – sitzend am Rand eines Sommers mit einem leicht bitteren Nachgeschmack und noch nicht ganz bereit, in das raschelnde Laub zu springen. Also teile ich mit dir noch eine wunderschöne und sonnige Wanderung, eine von denen, die dich schwindlig machen, dich zum Schwitzen bringen und dich am Ende mit einem unglaublichen Panorama belohnen, wenn du den Gipfel erreichst. 

Der Wecker hat im Morgengrauen geklingelt, noch bevor die Sonne aufgegangen ist. Es war im Juli und ich hatte wieder einmal den unfehlbaren Empfehlungen meines Bruders gefolgt, der einige Tage zuvor schon hier war. Mit unseren Füssen in den Wanderschuhen starten wir in Plan Mayen, gleich oberhalb von Crans-Montana. 

Der Versuch, den Massen zu entkommen, gelingt bestens. Der schmale, steinige Pfad weicht bald Holzstegen, die sich eng an den Berg schmiegen. Im tiefen Schlaf hört der Wald das Murmeln des Wassers nicht. Und doch singt die Suone zu unserer Rechten.

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Camille Marion

Wer sich für die Geschichte der Bisse du Ro interessiert, findet entlang des Weges viele Informationstafeln. Wir steigen weiter hinauf, bis zur ziemlich neuen Metallbrücke. Über rund hundert Meter überquert man die Konstruktion und geniesst dabei den grossartigen Blick auf die Umgebung. Es ist wunderschön – und besonders eindrucksvoll. 

Der Weg ist schmal aber angenehm und gut gepflegt. Er verläuft weiterhin entlang der Bergflanke, überquert ein Geröllfeld und erfrischt sich unter einem Wasserfall, bevor er den Felsriegel und die Suone verlässt und in einladende Weiden übergeht. Die Sonne hat die Gipfel überstiegen und wärmt unsere bereits verschwitzte Stirn. In der Ferne erscheint zwischen den Bäumen die gewaltige Felswand der Tseuzier-Staumauer, doch unser Weg ist noch lang … 

Nach einem letzten Anstieg erreichen wir schliesslich das Ufer des Lac de Tseuzier. Das Blau seines Wassers ist magisch. Darin spiegeln sich die vielschichtigen Berge – eine kunstvolle Mischung aus Grün- und Grautönen, gesprenkelt mit Tannen. Auf der Staumauer ist der Anblick atemberaubend: auf der einen Seite der stille See, auf der anderen der gewaltige Abgrund, der ins Tal stürzt und das Echo unserer Worte zurückwirft.

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Camille Marion

Nach einer wohlverdienten Pause auf der Terrasse des kleinen Restaurants beginnen wir den Abstieg. Natürlich kann man denselben Weg zurückgehen, doch nach einigen hundert Metern biegen wir nach rechts ab in Richtung Icogne, um über den Bisse du Lens zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren. In den wilden Weiden grasen Kühe, die unserem Vorbeigehen kaum Beachtung schenken. 

Die Beine werden müde und der Weg ist anspruchsvoll – vor allem der letzte «kleine» Anstieg, der zurück zum Bisse du Ro führt. Um ehrlich zu sein: Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir uns auf den letzten Kilometern etwas verlaufen haben, aber das liegt natürlich nur an den Wegweisern, die in alle Richtungen zeigen und stets «Crans» ankündigen. Wie dem auch sei – schliesslich erreichen wir Plan Mayen am frühen Nachmittag und beenden diese grossartige Wanderung.

Nützliche Informationen

▪️ Route: Plan-Mayen – Bisse du Ro – Tseuzier-Staumauer – Bisse du Lens – Plan Mayen
▪️ Länge: 18 Kilometer, etwa 5 Std. 30 Min.
▪️ Höhenunterschied: ca. 1500 m Auf- und Abstieg
▪️  Schwierigkeit: ziemlich anspruchsvoll; einige Passagen sind für Personen mit Höhenangst nicht zu empfehlen

Camille Marion
VCS
Über die Autorin

Camille Marion ist Co-Redaktionsleiterin des VCS-Magazins. Auf ihrem Reiseblog «Lève l'encre» teilt sie ihre Reiseberichte über die Landschaften der Schweiz und anderer Länder.

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