#Klimaschutz

«Der Rückgang hat erhebliche Auswirkungen auf die Lebewesen»

Camille Marion – VCS-Magazin 4/2022

Eine wissenschaftliche Studie, die in diesem Sommer publiziert wurde, kommt zum Schluss, dass die Schweizer Gletscher zwischen 1931 und 2016 die Hälfte ihrer Masse verloren haben. Amaury Dehecq, Co-Autor der Studie, spricht über die Folgen der Schmelze für die Fauna, die Flora und die Wasserkraftproduktion.

Amaury Dehecq, das Schweizer Parlament hat im September den Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative, der das Ziel von netto null Emissionen bis 2050 gesetzlich verankert, angenommen. Ist dieser Zeithorizont vertretbar für das Überleben der Gletscher?

Diese politische Entscheidung ist wichtig für die Gletscher, denn die einzige Möglichkeit, den Trend umzukehren, besteht in einer Stabilisierung des Klimas und in einer Senkung der Produktion von Treibhausgasen. Es existieren Alternativen, um bestimmte Alpengletscher lokal zu schützen, beispielsweise mit Planen, aber auf breiter Ebene ist dies keine praktikable Lösung. Während die Situation der Schweizer Gletscher sehr kritisch ist, kann der Volumenverlust in den Anden, dem Himalaya oder den Polarregionen noch begrenzt werden. Jede Massnahme, die dazu beiträgt, die CO2-Emissionen zu senken, ist wichtig für die Gletscher.

Amaury Dehecq arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Forschung und Entwicklung in Grenoble, Frankreich. Er hat an der Studie «Halving of Swiss glacier volume since 1931 observed from terrestrial image photogrammetry» mitgearbeitet, die im August in der wissenschaftlichen Zeitschrift «The Cryosphere» der European Geosciences Union publiziert wurde.

Die Studie, die Sie kürzlich publiziert haben, kommt zum Schluss, dass die Schweizer Gletscher zwischen 1931 und 2016 die Hälfte ihrer Masse verloren haben. Wie kommen Sie zu diesem Ergebnis?

Die Studie begann mit der Durchforstung des Bilderarchivs von swisstopo [Anm. d. Red.: Bundesamt für Landestopografie] zur Erde. Diese Bilder decken fast die kompletten Schweizer Alpen ab und ihre Besonderheit besteht darin, dass sie aus zwei Blickwinkeln aufgenommen wurden. So konnten wir, ausgehend von 20 000 Bildern, die Topografie der Gletscher dreidimensional rekonstruieren, sie mit den Daten von 2016 vergleichen und so den Volumenverlust seit 1931 auf 50 Prozent schätzen.

  

Ist diese Schlussfolgerung schlimmer als erwartet?

In den letzten Jahren wurden weitere Studien durchgeführt, aber sie stützten sich nur auf ein paar Dutzend Gletscher. Die Ergebnisse wurden von der Gesamtheit der Alpen abgeleitet und schätzten den Volumenverlust seit 1900 bereits auf ungefähr 50 Prozent. Unsere Studie hat diese Schätzungen mit systematischeren Beobachtungen bestätigt, da uns der Einbezug der Bilderarchive eine umfassendere Abdeckung ermöglichte. Die Daten wurden erst kürzlich zugänglich gemacht und ihre Auswertung erforderte eine lange und mühsame Aufbereitung, aber es ist ein aussergewöhnliches Archiv.

  

Die Ergebnisse wurden in diesem Sommer publiziert. Können Sie bereits etwas über ihre Wirkung sagen, insbesondere in der breiten Öffentlichkeit und in der Politik?

Die Studie ermöglicht es, eine greifbare Zahl zu geben, was zur Sensibilisierung bezüglich des Gletscherrückgangs und ganz allgemein der Klimaerwärmung beiträgt. Aber die Bilder haben eine noch grössere Wirkung. Im Rahmen eines anderen Projekts haben Studierende die Orte, die auf den historischen Bildern von swisstopo abgebildet sind, fotografiert, um die Situation von 1930 mit heute zu vergleichen. Das Ergebnis ist für die breite Öffentlichkeit sehr aussagekräftig. Auf politischer Ebene soll es zu einer weiteren Anregung der Debatte beitragen. Die Gletscher sind ein Symbol für die Klimaerwärmung geworden, denn die Auswirkungen sind dort besonders offensichtlich.

  

Gibt es noch Hoffnung, dass die Schweizer Gletscher überleben?

Wenn man von mittleren Emissionsszenarien ausgeht, belaufen sich die Schätzungen bezüglich Volumenverlust der Alpengletscher bis zum Jahr 2100 auf 65 bis 95 Prozent. Selbst wenn wir das Klima so beibehalten könnten, wie es aktuell ist, würden die Gletscher weiter ungefähr 40 Prozent ihres Volumens verlieren.  as ist unvermeidbar. Wenn wir es hingegen schaffen, unsere Emissionen bis 2050 zu stabilisieren, könnte zwar am Ende des Jahrhunderts eine Spitzentemperatur erreicht werden, aber auf einen längeren Zeitraum betrachtet, ist es möglich, dass die Gletscher erneut vorrücken.

  

Können andere Massnahmen, insbesondere im Bereich des Bergtourismus, dazu beitragen, die Schmelze zu begrenzen?

Bergsteigen, Skifahren und andere Aktivitäten, die sich auf den Gletschern abspielen, haben einen geringen Einfluss auf die Gletscherschmelze. Entscheidend ist das Klima, also die durchschnittliche Lufttemperatur und die Niederschlagsmenge. Auch beim Tourismus liegt die Priorität auf der Senkung der CO2-Emissionen, die hauptsächlich mit der Wahl des Verkehrsmittels verbunden sind, mit dem man in die Berge fahren kann.

  

Welche Risiken birgt die Gletscherschmelze?

Die erste Auswirkung betrifft die Wasserverfügbarkeit. Gletscher fungieren als Reservoirs. Im Winter speichern sie Wasser in Form von Schnee und Eis und während trockenerer Sommerperioden speisen sie die Wasserläufe. Aktuelle Studien haben geschätzt, dass die Fülle der Wasserläufe in den Schweizer Alpen im Jahr 2100 im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Gletschern um 30 bis 50 Prozent abnehmen könnte.

  

Und die Fauna und die Flora?

Tatsächlich hat der Rückgang der Gletscher erhebliche Auswirkungen auf die Lebewesen. In den Zonen, in denen kein Eis mehr vorhanden ist, macht sich die Vegetation wieder breit. Man beobachtet infolge der Klimaerwärmung auch einen Anstieg der Baumgrenze. Gewisse Fisch- und Amphibienarten, die Frischwasser benötigen, sind bedroht. Dasselbe gilt für die Mikroorganismen und Algen, die auf den Gletschern wachsen.

  

Seit einigen Monaten fürchtet Europa um die Energieversorgungssicherheit. In der Schweiz speisen die Gletscher zahlreiche Stauseen. Wie wird sich die Schmelze auf die Wasserkraftproduktion auswirken?

Die Wasserzufuhr in die Reservoirs wird sicherlich reduziert, aber dieser Effekt ist schwach, denn die Stauseen fungieren bereits als regulierende Puffer. Auch wenn es bedauerlich ist – die Gletscherschmelze bietet sogar ein Potenzial für die Stromproduktion. Die vom Eis befreiten Täler können mit Wasserkraftwerken bebaut werden, um die Schweizer Produktion zu steigern. Das sind jedoch bloss theoretische Projektionen. Der Bau von neuen Staudämmen wirft natürlich wichtige ökonomische und ökologische Fragen auf.

  

Beitrag aus VCS-Magazin 4/2022


Camille Marion, Redaktorin VCS-Magazin

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