Wenn sich die Politik taub stellt

Yves Chatton

Das Parlament diskutiert über Erleichterungen bei der Bewilligung von Bauprojekten, die den Anforderungen an den Lärmschutz nur teilweise genügen. Dabei ist es höchste Zeit, den Lärm an der Quelle zu reduzieren, um die Lebensqualität der Schweizer Bevölkerung zu gewährleisten.

Verdichten hat zahlreiche Vorteile. Damit lassen sich die Wege im Alltag verkürzen und das Unterwegssein zu Fuss, mit dem Velo oder dem öffentlichen Verkehr ist einfacher. Und es schont erst noch die Natur, die Landschaft und das Agrarland. Das Umsetzen einer hochwertigen Verdichtung bringt aber auch Herausforderungen mit sich, darunter einen seriösen Lärmschutz.

Eine Frage der Prioritäten

Die wichtigste Lärmquelle ist der Strassenlärm. Wie also verdichtet man und schont zugleich die Bevölkerung vor Lärmbelästigung? Diese wichtige, zurzeit im Parlament debattierte Frage zeigt einmal mehr, dass alles eine Frage der Prioritäten ist. Doch zunächst einige Erläuterungen zum besseren Verständnis der anstehenden Fragen.

Zum Schutz der Bevölkerung legt das Gesetz aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse Lärmgrenzwerte fest, die an Orten, wo gewohnt wird, nicht überschritten werden dürfen. Diese Lärmschwellen werden als Immissionsgrenzwerte bezeichnet. Um festzustellen, ob sie eingehalten werden, wird der Lärm in der Mitte der offenen Fenster jedes einzelnen lärmempfindlichen Raums gemessen. Dazu zählen alle Räume in Wohnungen, ausgenommen Küchen ohne Wohnanteil, Badezimmer und Abstellräume. Was ist zu tun, wenn die Grenzwerte überschritten werden? Das Gesetz sieht vor, dass in diesem Fall bevorzugt Massnahmen zur Reduktion des Lärms an der Quelle zu treffen sind.

Veraltete Grenzwerte

Festgelegt wurden die aktuellen Grenzwerte vor fast 40 Jahren. Seither kamen zahlreiche Studien zum Schluss, dass bereits niedrigere Lärmpegel unsere Gesundheit erheblich beeinträchtigen. Dies ist einer der Gründe dafür, dass eine Fachkommission des Bundes vor zwei Jahren empfahl, den Lärmschutz zu verbessern, insbesondere durch eine Senkung der Grenzwerte. Was aus diesen Empfehlungen wird, steht noch in den Sternen. Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation evaluiert zurzeit die wirtschaftlichen Auswirkungen der verschiedenen von der Fachkommission vorgelegten Empfehlungen. Man wird sich mit Geduld wappnen müssen.

Kommen wir auf das Verdichten zurück. Bisher erhalten Neubauten im Prinzip nur dann eine Baubewilligung, wenn sich die Grenzwerte bei allen Fenstern aller lärmempfindlichen Räume einhalten lassen. Die Gesetzgebung gesteht den Kantonen allerdings einen Ermessensspielraum zu. Sie können Ausnahmebewilligungen erteilen, wenn ein überwiegendes Interesse am Bau des Gebäudes besteht. Zwei Lösungen bieten sich im Konfliktfall an: Massnahmen zur Reduktion des Lärms an der Quelle oder auf Ausnahmebewilligungen setzen. Die Kantone räumen oft der zweiten Option Priorität ein. Die dabei verfolgte Praxis nennt sich Lüftungsfenster. Die Lösung besteht darin, Neubauten zuzulassen, sofern die Grenzwerte bei einem Fenster eines lärmempfindlichen Raums eingehalten werden. Diese Praxis verwässert den Lärmschutz erheblich. Deshalb wurde sie 2016 vom Bundesgericht für unvereinbar mit der aktuellen Gesetzgebung erklärt. Das Urteil war eine unmissverständliche Aufforderung, Lösungen zur Reduktion des Lärms an der Quelle zu bevorzugen. Doch die Botschaft wurde nicht erhört oder vielmehr einfach ignoriert. Kaum ein Jahr später überwies das Parlament eine Motion, mit der verlangt wurde, die Praxis des Lüftungsfensters ins Gesetz aufzunehmen.

Es könnte noch schlimmer kommen

Die Umsetzung dieses parlamentarischen Vorstosses steht nun im Rahmen einer Revision des Umweltschutzgesetzes zur Debatte. Die ersten Erörterungen dazu im Ständerat sind, gelinde gesagt, besorgniserregend. Denn er will noch viel weiter gehen, als es der Vorstoss verlangt: Künftig sollen die Grenzwerte nur noch bei einem Fenster von bloss der Hälfte der lärmempfindlichen Räume eingehalten werden – statt von allen diesen Räumen, wie es die Motion verlangte. Schlimmer noch: der Ständerat fügte zwei weitere Möglichkeiten für Ausnahmen hinzu. Die erste besagt, dass die Grenzwerte nur an einem Fenster eines einzigen lärmempfindlichen Raumes eingehalten werden müssen, wenn die Wohnung auch über einen privaten Aussenbereich verfügt, bei dem die Grenzwerte eingehalten werden. Die zweite besagt, dass kein Fenster die Grenzwerte einhalten muss, wenn alle lärmempfindlichen Räume über eine kontrollierte Lüftung verfügen.

Falsche Prioritäten

So also stellt sich der Ständerat Lebensqualität in unseren Wohnungen vor: Entweder bleiben die Fenster geschlossen oder man ist in praktisch jedem Raum dem Lärm sehr stark ausgesetzt. Und was, wenn man nicht allein, sondern als Familie lebt: Wer das längste Zündholz zieht, darf im «stillen» Zimmer oder auf dem «stillen» Balkon schlafen? Für den Ständerat haben solche Fragen keine Priorität. Wenn der Nationalrat das Ruder nicht herumreisst, riskiert die Bevölkerung schwerwiegende Folgen. Schon heute leiden mehr als eine Million Menschen in der Schweiz unter Verkehrslärm, der über den Grenzwerten liegt. Dieser Umstand beeinträchtigt die Gesundheit schwer und befeuert die soziale Ungleichheit. Auf Ausnahmebewilligungen zu setzen, um Grenzwerte umgehen zu können, wird die Lage verschlimmern.

An der Quelle reduzieren

Für den VCS gibt es einen anderen Weg, der es allen ermöglicht, mit weniger Lärm zu leben. Revolutionär ist daran nichts, es geht bloss darum, dem Gesetz Achtung zu verschaffen: Der Lärm ist prioritär an der Quelle zu reduzieren. Lösungen dafür bestehen bereits, zahlreiche Beispiele zeigen, dass sie umsetzbar sind. Wird etwa die Geschwindigkeit von 50 auf 30 km/h gesenkt, zieht dies eine Lärmreduktion um rund 3 dB (A) nach sich. Dies entspricht einer Halbierung des Verkehrs. Geschwindigkeitsreduktionen ermutigen zudem zur Fortbewegung zu Fuss oder mit dem Velo, was entschieden weniger Lärm verursacht. Andere Massnahmen wie der Einsatz von lärmarmen Reifen oder Flüsterbelägen ermöglichen es ebenfalls, den Verkehrslärm zu verringern.

Einen grossen Schritt hin zu einer hochwertigen Verdichtung machen wir deshalb dann, wenn wir der Lärmreduktion an der Quelle Priorität einräumen. Der VCS wird nichts unversucht lassen, dies dem Nationalrat in den kommenden Monaten in Erinnerung zu rufen.

 

Volksentscheide zum Thema Lärm

In Zürich erhitzt Tempo 30 regelmässig die Gemüter. Eine Initiative der Stadtzürcher SVP fordert Tempo 50 auf allen Hauptachsen. Sie ist zurzeit in der Schlussberatung des Gemeinderates, an die Urne kommt sie vermutlich im Juni oder im September. Vergleichbares fordert die kantonale SVP – will aber Ausnahmen auf kurzen Streckenabschnitten ermöglichen. Argumentiert wird mit einem angeblich besseren Verkehrsfluss und drohendem Ausweichverkehr in die Quartiere. Dass am Ende die lärmgeplagten Anwohnerinnen und Anwohner leiden, nehmen die Initiantinnen und Initianten ebenso in Kauf wie Abstriche bei der Verkehrssicherheit.

Die FDP des Kantons Zürich fordert in einer Initiative, dass die Gemeinden für Mehrkosten beim ÖV, die aufgrund von Tempo 30 anfallen, selbst aufkommen. «Diese Initiative ist absurd, denn sie ist auf die Stadt Zürich gemünzt. Die hat aber schon ohne Gegenstimmen beschlossen, dass sie jegliche Mehrkosten selbst tragen will», hält Markus Knauss von der Zürcher VCS-Sektion fest.

Auch Fluglärm ist in Zürich zurzeit ein Thema: Die Stimmberechtigten des Kantons stimmen im März über eine Pistenverlängerung am Flughafen Zürich ab. Begründet wird dies mit einer erhöhten Sicherheit und optimierten Abläufen. Die Gegnerinnen und Gegner haben gegen diesen Beschluss des Kantonsrates das Referendum ergriffen. Die Folge der Pistenverlängerungen sind mehr Flugbewegungen und grössere Flugzeuge. Damit verbunden kommt es zu mehr Lärm und klimaschädlichen Emissionen – Letzteres lässt sich zudem nicht mit den in der Verfassung verankerten Klimazielen vereinbaren. Dazu braucht es weniger Flüge und eine stärkere Ausrichtung auf den internationalen Zugverkehr. Weiter würden dem Pistenausbau 26 Hektaren Kulturland zum Opfer fallen.

    

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