Bostg – der Heidelbeerenberg

Nur noch der kurze Gipfelgrat trennt die beiden vom 360-Grad-Panorama des Bostg.

Unsere Zufallsbekanntschaft vom Februar 2021 ist keine besonders auffällige Erscheinung, im weiten Umkreis steht Imposanteres. Aber ob im Wintermantel oder im Sommerkleid, der Bostg bietet viel mehr, als wir dachten.

Disentis ist mehr als eine Anreise wert. Vom Mittelland her geht’s dem Zürichsee entlang und durch die Kulissen von Walensee und Bündner Herrschaft. Schlicht sensationell dann die Zugfahrt durch die Rheinschlucht zwischen Reichenau und Ilanz: Zumal wenn Schnee- und Eisgebilde die bizarren Felsformationen schmücken, wenn Inseln und Baumstämme im Flussbett dicke Kappen tragen und das Wasser farblich an PR-Fotos aus der Karibik gemahnt. Aber auch wer via Andermatt nach Disentis fährt, kommt mit dem Oberalppass zu einem Bahnerlebnis der Extraklasse.
Wir wollten unsere kleine Flucht aus dem Lockdown in ein Hotelwochenende mit dem Test des Schneetourenbusses verbinden, der die Hochebenen südlich des Lukmaniers erschliesst. Doch es war nichts zu machen. Wie schon seit Tagen blieb die Passstrasse wegen Lawinengefahr geschlossen. Was jetzt? Zuerst das, was wir ohnehin vorhatten: auf zur Besichtigung des Klosters Disentis – beeindruckend –, dann zur Suche nach lauschigen Ecken, deren Zahl sich als überschaubar herausstellt. Immerhin hat der Dorfkern mit dem flächig eingeführten Tempo 30 einiges an Lebensqualität zurückgewonnen.
Und natürlich erkundigten wir uns unterwegs im Tourismusbüro nach Winterwanderwegen und empfehlenswerten Schneeschuhtouren. Obwohl das Angebot reichhaltig ist, fiel unsere Wahl rasch auf den Bostg – das s als «sch» ausgesprochen und das Ende ungefähr wie ein «dsch». Auf diesen rätoromanischen «Forst» blickten wir von unserem Fenster aus, und vor unseren Augen verschluckte er die Abendsonne. Da war doch wohl eine Entschädigung fällig.
 

Ein Biancograt für blutige Anfänger

Um an den Fuss des Piz Plaun Grond, wie er auch heisst, zu gelangen, nimmt man entweder die Bahn bis Segnas oder Mumpé Tujetsch (und steigt ein paar Meter zum jeweiligen Dorf hoch) oder den Ortsbus bis Acletta. Oder aber man schlägt ab Disentis den aussichtsreichen, bequemen Winterwanderweg ein, der – an allen genannten Orten vorbei – bis Sedrun führt und gleichzeitig ein Planetenweg ist. Als Ausgangspunkt für den Aufstieg empfehlen wir eher Mumpé Tujetsch; in Segnas, das einen hübschen Dorfkern besitzt, ist die Situation anfänglich etwas verwirrlich, weil eine Skipiste im Weg steht – beziehungsweise unser Weg ist, wie wir dann merken. Aber auch hier steigt und kurvt dieser bald einmal sanft durch den winterlich verzauberten Wald hinauf. Bei Run Cunel treffen die beiden Routen aufeinander. Gleich unterhalb liegt verträumt die Alp Prau Sura da, eingebettet in die Bostg-Südflanke, prädestiniert als Rastplatz: Das Medelsermassiv setzt sich hier vorzüglich in Szene.
Abgesehen vom kurzen, etwas ruppigen nächsten Abschnitt kommen wir kaum ausser Atem. Ist es seit dem letzten grösseren Schneefall schon eine Weile her, präsentiert sich der gut ausgeschilderte Weg so gut gepfadet, dass es problemlos auch ohne Schneeschuhe geht. Lawinenschaufel und Verschüttetensuchgerät kann man sowieso getrost zu Hause lassen. Zwar zeichnet sich, als wir schliesslich offenes Gelände erreichen, der letzte Aufschwung gegen den Gipfel zu als wahrer «Biancograt» vor dem tiefblauen Himmel ab. Aber er erweist sich als harmlos: Jene, die für uns vorspurten, haben dies mit Geschick getan, wohl etwa dem Verlauf des Wanderwegs folgend.

Kleiner Gipfel, grandiose Aussicht

Als wir oben anlangen, sind wir hin und weg – und versuchen, die Gründe dafür fotografisch festzuhalten. Der Bostg, lediglich 1995 Meter hoch, ist im Rund des Alpenkranzes um Sedrun und Disentis so ideal positioniert, dass seine Gäste gleich auch noch die gesamte Surselva überblicken. In rund zwei Stunden sind Wandernde oben und finden hier, nicht weit von grossen Skizirkussen entfernt, Ruhe in unverbauter Natur. 
So gerne wir nach Sedrun oder über den Südhang des Bostg – in der warmen Jahreszeit ein beliebtes Mountainbike-Terrain – abgestiegen wären: Ersteres wäre wegen des abschüssigen Geländes halsbrecherisch, während Letzteres nicht in Frage kommt, weil diese Route eine Wald-Wild-Ruhezone durchschneidet, im Wohlklang des Rätoromanisch eine «Zona da ruaus per uaul e selvaschina».
Also gehen wir denselben Weg retour. Denselben? Die Perspektiven sind ja ganz andere. Zudem kürzen wir bei manch einer der Kehren ab, ziehen unsere Spur mehr oder weniger in der Falllinie in den Schnee, watend, rutschend und in den schönsten Momenten fast schon gleitend. Mit dem Schwebegefühl, das sich bei einer Skiabfahrt durch Pulverschnee einstellt, wollen wir’s nicht vergleichen. Zu beflügeln vermag es uns dennoch durchaus.

Zwischenverpflegung à discrétion

Ein gutes halbes Jahr später stehen wir schon wieder oben, aufgestiegen von Sedrun her auf ebenso steilem wie schönem Pfad. Der frühe Herbst ist ein guter Moment dafür. Die breiten Flanken des Bergrückens, der sich südlich des Vorderrheins gegen den Piz Pazzola hinaufzieht, sind vor lauter Heidelbeersträuchern errötet. An unserem Weg sind es erst nur einzelne. Doch je lichter der Wald wird, desto häufiger werden unsere Nasch- und Verschnaufpausen. Zu den Heidel- gesellen sich auch noch Preiselbeeren. 
Das baumlose «Gipfelplateau» des Bostg ist um einiges gewellter, als wir es vom Februar her in Erinnerung hatten. Was die dicke Schneedecke sonst noch verhüllte, lässt uns unserem Loblied gleich noch eine Strophe hinzufügen. Die üppige, farbenprächtige Vegetation besteht grossteils aus Heidelbeersträuchern, Alpenrosenstauden und Erika, im September in voller zartvioletter Blüte. Wir schauen. Zwei Schwalbenschwänze tanzen um gelb leuchtende Herbstblumen beziehungsweise umeinander herum. Unten am Waldrand sammelt eine Frau – ja was wohl. Das Gebell ihres Hunds ist das Einzige, was die Stille durchbricht.

Urs Geiser ist Redaktor der Regionalseiten und mit dem allerletzten Schneetourenbus im April doch noch über den Lukmanier und so zur eigentlich geplanten Reisegeschichte gekommen.
 

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