Dem Winter den Rücken gekehrt

Lukmanier: Ein Stück Wanderland Schweiz vom Feinsten, ...

Als Geheimtipp lässt sich der Weg vom Lukmanierpass nach Olivone im Bleniotal nicht verkaufen. Es sei denn, man nimmt ihn unter die Füsse, wenn es dafür zur Wanderausrüstung hinzu noch Schneeschuhe braucht.

Nichts wie weg aus dieser Bise! Unbarmherzig bläst sie vom Bündnerland ins Tessin hinüber. Dabei hat sie die Bergflanken, die sich über dem Lukmanier-Hospiz erheben, doch längst so gut wie blankgefegt. Hastig schnallen wir die Schneeschuhe an, schlurfen mit klammen Fingern einen Schluck Tee und staksen los, über die dicke Schneedecke in Richtung eines Felskolosses, der aus dem Talboden der Alpe Pertusio aufragt. Nicht stetig und gleichmassig abwärts, sondern von Ebene zu Ebene geht es auf unserer Route, und die erste kleine Stufe, die da zu überwinden ist, hat es gleich in sich. Wollen wir uns, dem nur erahnbaren Wanderweg folgend, durch das abschüssige Gelände, durch rutschigen Schnee hinabmühen?
Wir wollen nicht, ziehen gegen die Passstrasse hinauf und für ein paar Minuten ihr entlang, um dann talaufwärts zum erwähnten Felsen zurückzugehen. Auf seinem Haupt sitzt ein Mast der Starkstromleitung und erinnert uns daran, dass wir nicht nur unbescholtene Naturliebhaberinnen, sondern auch Naturkonsumenten sind. Solcher Erkenntnisgewinn ist allerdings nicht unser Motiv für den Umweg: Am südlichen Felsfuss entspringt der Brenno, einer der grossen Nebenflüsse des Ticino. Natürlich, kein Vergleich mit den monumentalen Karstquellen zum Beispiel von Loue oder Lison im Jura. Aber das kristallklare Wässerchen, das geheimnisvoll dem Untergrund entströmt, hat etwas Magisches und lädt zum Sinnieren ein. Über den Kreislauf, der da augenscheinlich einen Anfang hat, aber kein Ende. Und ohne den ja weder wir noch sonst wer dastünde.

So etwas hatten wir noch nicht gesehen

Von Frühsommer bis Spätherbst bezaubert der Brenno auf den wild geschlängelten ersten Kilometern seines Laufs viel Wandervolk und Ausflügler. Jetzt, Ende April, ist er noch von hohen Schneemauern gesäumt, und wir haben ihn fast für uns allein. Der eisige Wind hat nachgelassen und seine Verwandlung angetreten. Bald wird er vollends Nordföhn sein, der auf der Alpensüdseite nicht nur für wolkenloses Blau sorgt, sondern – abseits der heftigen Böen – auch Wärme bringt.
Mal in Ufernähe, mal in einiger Entfernung legen wir unsere Spur durch die Weite der Alp Casaccia. Mehr und mehr dominiert ein kräftiges Grün das Landschaftsbild, jenes der Arve. Sprösslinge, Jungwuchs, stämmige Exemplare mit säulenartigen Wipfeln, knorrige, über zwei, drei Jahrhunderte würdig gealterte: Der Arvenbestand in der Riserva forestale della Selvasecca, in die wir nun eintauchen, sucht seinesgleichen. Seit bald 20 Jahren betreibt in diesem Reservat einzig der Tannenhäher noch Waldwirtschaft, indem er fleissig Arvensamen sammelt, sie bunkert und dann das eine oder andere von abertausenden Verstecken vergisst …
Mulden und Hügelchen, Felsbrocken, Gräben, Tümpel und Torfmoore prägen das sich selbst überlassene Schutzgebiet. Auf Naturlehrpfaden lassen sich in der warmen Jahreszeit seine Schätze entdecken. Ausgangspunkt dafür ist das Centro Pro Natura in Acquacalda, auf dessen Sonnenterrasse wir eine Rast einlegen. Nach einer Phase wirtschaftlichen Niedergangs gegenwärtig im Umbau, wird das geschichtsträchtige Haus hoffentlich bald aus seinem Dornröschenschlaf erwachen.
Sanft geht’s hinunter auf die nächste Hochebene, den Pian Segno. Immer der Nase nach, sagen wir uns in Anbetracht der offenen Landschaft – und übersehen, dass der Wanderweg auf das rechte Flussufer wechselt. Der Preis dafür ist, dass wir uns kurz durchs Unterholz auf die Strasse hinauf durchschlagen müssen. Belohnt werden wir mit einem nächsten Wunder der Natur. Am Rand eines Moores stossen wir auf ein grosses, tiefes Quellbecken, von dessen Grund Luftblasen aufsteigen und das uns mit seinem Türkis die Augen übergehen lässt.

Über Pü, Sacch und Cètt zum Bier

Das einstige Passsträsschen, das durch den Hang der Pianca Bella nach Campra hinunterführt, ist leider gesperrt, anscheinend dauerhaft. Also versuchen wir uns, mit aller gebotenen Vorsicht, am Steilabstieg via Bergwanderweg, obwohl sich in der Brenno-Schlucht der Schnee noch türmt. Dieser erweist sich überall als griffig, wir kommen problemlos durch. Wäre es anders, müsste man halt zweieinhalb Kilometer weit der Strasse folgen und das kleine Langlaufparadies von Campra, durch das unser Fluss wunderschon mäandert, von oben betrachten.
Danach sollte der Weg selbst im Hochwinter keine grösseren Schwierigkeiten mehr bieten. Von einem hübschen Maiensäss zum andern – sie heissen Pü, Sacch und Cètt – zieht er sich durch Wald und Flur nach Camperio, der letzten Zwischenebene vor unserem Ziel. Weil dieses nicht mehr weit ist, wir uns inzwischen der Schneeschuhe entledigen konnten und endgültig der Frühling in der Luft liegt, bestellen wir im Ristorante Ospizio, das auch Obdach böte, ein Bier. Die Bedienung ist so freundlich, dass sie hier Erwähnung verdient.
Durch Buchenwald bringen wir die letzte Steilstufe hinter uns, über 200 Höhenmeter nach Sommascona hinab. Von da weg ist lockeres Auslaufen angesagt. Vor dem Caseificio, der Dorfkäserei, stehen die Leute Schlange, notabene am späten Sonntagnachmittag. Wir wittern einen weiteren Quell der Lebensfreude, kaufen passend zum doppelgesichtigen Tourentag einen «misto» aus Kuh- und Ziegenmilch und beglückwünschen uns später dazu.
Keinen einzigen der vielen Gipfel, die eine prächtige, ständig wechselnde Winterkulisse abgaben, haben wir «bestimmt». Es sind auch kaum Berühmtheiten darunter. Auf der Zielgeraden, rund sechs Stunden nach dem Start, drängt sich doch noch einer auf. Atemraubend jäh und wuchtig, wie ein Ausrufezeichen, ragt der kegelförmige Sosto hinter Olivone auf, das übrigens über ein paar schöne Gasthäuser verfügt. So attraktiv die Busfahrt nach Biasca auch ist, wir hätten sie ganz gern um eine Nacht aufgeschoben.

Urs Geiser ist VCS-Redaktor für die Regionalseiten und kann das Unterwegssein im Valle del Sole, wie das Bleniotal im Volksmund heisst, ganz generell empfehlen.

Anreise im Winter/Frühling

Grundsätzlich ganzjährig geöffnet, ist der Lukmanierpass (1916 m ü.M.) per Postauto ab Disentis und Bus ab Olivone (902 m) nur von Juni–Oktober erreichbar.

Der Schneetourenbus Disentis–Casaccia, der bis April 2021 das Angebot ergänzte, verkehrt leider nicht mehr, doch nun springt der Greina-Bus in die Bresche.
Reservation: infonoSpam@greinabus.noSpamch oder Tel. 079 150 66 66.
Alternative: www.furgertaxi.ch (Disentis).

www.pronatura-lucomagno.ch

|
Diese Seite wird nur mit JavaScript korrekt dargestellt. Bitte schalten Sie JavaScript in Ihrem Browser ein!
.hausformat | Webdesign, TYPO3, 3D Animation, Video, Game, Print