Der Ruf des Gletschers

Liebe auf den ersten Blick: Der Sechsjährige und die Langhaarziegen.

Drei Generationen machen sich auf, den Grossen Aletschgletscher zu erkunden. Auf einer Wanderung von der Belalp auf die Riederfurka überqueren sie eine schwindelerregende Schlucht und begegnen einem Drachen.

Schon im Postauto auf dem Weg zur Belalp stimmen wir uns mit dem wunderbaren Bilderbuch «Du bist nicht allein, kleiner Aletschfloh» auf die bevorstehende Wanderung ein. Diese Fabel erklärt die Auswirkungen des Klimawandels auf die Fauna und Flora der Alpen auf anschauliche und kindgerechte Weise. Etliche der Tiere im Buch werden uns an diesem Tag auch in der Wirklichkeit begegnen.

Kaum sind wir ausgestiegen und haben das Dorf Belalp durchquert, wartet schon die erste Überraschung auf uns. Wir wollen uns ein paar Schritte abseits der Strasse die mittelalterlichen «Färricha» anschauen, kleine Pferche aus aufgeschichteten Steinen. Sie dienen der «Schafscheid», dem Aufteilen der Schafe nach der Sömmerung. Die «Färricha» sind das ganze Jahr über leer, denn die Schafe sind ja auf der Alp oder im Tal. Doch uns ist an diesem sonnigen Herbsttag das Glück hold: Just heute ist «Schäful», der Alpabzug der Schafe. Unzählige schwarznasige Wollknäuel drängen sich in den Einzäunungen. Nicht nur der Sechsjährige ist entzückt.

Glänzendes Tagesziel

Die Wanderung beginnt trügerisch harmlos: Ein halbstündiger Spaziergang führt uns vom Dorf Belalp zum Hotel Belalp, das den höchsten Punkt unserer Wanderung markiert. Von dort aus fällt der Weg steil ab in Richtung Schlucht. Doch bevor wir weitergehen, stärken wir uns im Restaurant und geniessen den ersten, atemberaubenden Blick auf den Grossen Aletschgletscher. Und noch etwas anderes sehen wir: Das Kupferdach der Villa Cassel auf der Riederfurka – unserem Tagesziel – glänzt auf der anderen Seite des Tals in der strahlenden Mittagssonne. So weit kann das doch gar nicht sein?

Den Junior hingegen interessiert etwas anderes weitaus mehr: Auf der Wiese hinter dem Hotel macht eine Herde der für diese Gegend typischen Ziegen einen Zwischenstopp. Auch sie sind auf dem Weg hinunter ins Tal, wo sie den Winter verbringen werden. Mit ihrem zotteligen Langhaarfell – hinten weiss, vorne schwarz – sehen sie aus, als hätte man sie kopfüber in schwarze Farbe getaucht.

Vor Angreifern wird gewarnt

Nun müssen wir aber wirklich los. Der Sechsjährige – bereits ein geübter Wanderer – übernimmt sehr bald die Führung. Ihm macht das Gefälle offenbar weniger aus als den älteren Generationen. Horch – was ist denn das? Laut und schrill klingt das Pfeifen. Und tatsächlich – schon entdecken wir das Murmeltier auf der Wiese unter uns. Es steht auf einem Felsbrocken und hält Ausschau nach Feinden – nach den Schafen schon wieder eines der Tiere aus dem Bilderbuch!

Der Weg in Richtung Schlucht ist länger als erwartet, denn er windet sich in Schlaufen um Felsen, die sich mitten in der Wiese auftürmen. Uns kommen erste Zweifel: Schaffen wir es noch vor dem Einbruch der Dunkelheit bis zur Villa Cassel?

Erstes Etappenziel: Hängebrücke

Endlich führt der Pfad über einen abgerundeten und längs eingekerbten Felsrücken, der ganz offensichtlich vom Eis geschliffen wurde, als der mächtige Gletscher noch das ganze Tal ausfüllte. Die Landschaft verändert sich jetzt merklich – die Wiesen weichen einer felsigen Gegend, der Wanderweg führt durch unwegiges Gelände talwärts. Der Senior bleibt immer weiter zurück und klagt über schmerzende Zehen, während der Junior wie eine Bergziege von Felsbrocken zu Felsbrocken hüpft.

Da erscheint unter uns die langersehnte Hängebrücke, welche hoch über dem weissen Schmelzwasser des Aletschgletschers die Schlucht überquert. Der Enkel, der sich vor Antritt der Wanderung vor der Hängebrücke gefürchtet hatte, prüft zuerst die Dicke der Stahlseile. Nachdem diese offenbar zu seiner Befriedigung ausfällt, rennt er freudig über die Brücke – und wieder zurück. «Mama, komm!» Diese ist skeptischer und klammert sich krampfhaft an den Stahlseilen fest, während sie einen Blick runter in die Schlucht wagt.

Währenddessen ist der Grossvater ausnahmsweise vorausgegangen und hat die Brücke mutig überquert – ohne den Massafluss in der Tiefe auch nur eines Blickes zu würdigen.

Drachen im Aletschwald

Nun beginnt der Aufstieg. Auf den ersten Metern dominiert bei den beiden Älteren Angst um den Junior, so steil geht es neben dem schmalen Weg runter in die Schlucht. Doch bald ist die Zitterpartie ausgestanden, und wir betreten den Aletschwald. Dieses Schutzgebiet beherbergt vorwiegend Arven – angeblich wachsen hier die ältesten Bäume der Schweiz, teils 900 Jahre alt.

Nur das allererste Stück ist steil und steinig, danach führt der Pfad in angenehmem Zickzack stetig nach oben. Es beginnt zu nieseln, doch die Arven beschützen uns. Es ist in der Tat ein wunderschöner Wald mit einer ganz eigenen Stimmung. Fliegt dort nicht gerade ein Drache über den Weg? Oder ist es doch nur ein knorrig gewundener, toter Baum? Sofort klettert der Kleine darauf hoch und zähmt den Drachen.

Der Grossvater geht mal vor, mal hinter uns – nebeneinander ist auf diesem schmalen Weg kaum möglich. Plötzlich verstummen wir. Wenige Meter vor uns stehen Gämsen, mitten auf dem Weg! Die Tiere stehen still und betrachten uns für einen kurzen Augenblick, dann rennen sie talabwärts. Wir sind ganz beglückt – noch nie haben wir Gämsen in freier Wildbahn aus solcher Nähe gesehen!

Vergangenheit und Zukunft

Nach fast zweieinhalb Stunden lichtet sich der Wald, und schon bald glänzt es erneut vor unseren Augen: das kupferne Dach der Villa Cassel, seit 1976 ein Naturschutzzentrum von Pro Natura inklusive Hotel. Das viktorianische Fachwerk-Schlösschen wurde um 1900 durch den einflussreichen englischen Bankier Ernest Cassel erbaut und ist architektonisch und historisch gesehen einzigartig in dieser Gegend. Sogar Winston Churchill hat sich mehrfach hier aufgehalten!

2019 wurde es totalsaniert und wird seither klimaneutral betrieben – eine grosse Herausforderung für ein denkmalgeschütztes Gebäude auf dieser Höhe! Schon bald sitzen wir im Speisesaal und lassen uns verwöhnen. Zur Klimaneutralität gehört hier auch, dass das Essen wie zu Hause in der Pfanne serviert wird – alle nehmen, so viel sie mögen.

Am nächsten Morgen besuchen wir die hoteleigene Ausstellung. Auf ansprechend dargestellten Infowänden mit interaktiven Elementen wird der Klimawandel erklärt. Der Höhepunkt ist das «Rad der Zeit»: Dreht man daran, bewegt sich eine grosse Leinwand und führt die Besucherinnen und Besucher durch die verschiedenen Gletscherepochen. Gleichzeitig wird ein Modell der Berge und des Gletschers mit präzise animiertem Licht mal beschneit, mal beleuchtet, und eine Lautsprecherstimme erzählt, welche Rolle der Gletscher im Laufe der Jahrhunderte innehatte. Nach dieser beeindruckenden Präsentation packen wir unsere Lunch-Pakete und Rucksäcke, schnüren unsere Wanderschuhe und gehen raus in die Bergsonne. Der Gletscher ruft!

Anita Weber ist Projektleiterin Marketing beim VCS Schweiz und wäre gern ebenso schwindelfrei wie ihr Sohn.

Infos: Pro-Natura-Zentrum auf der Riederalp: www.pronatura-aletsch.ch

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