Die alten Walser und das neue Vals

Der Walserweg Graubünden führt in rund 20 Etappen durch den Kanton. Wir haben zwei Etappen am Anfang ausgewählt und getestet: Sie sind schön und lehrreich, wie es sich für einen Themenweg gehört. Wobei man ausser den alten Walsern auch das neue Vals kennenlernt.

Frau Aebli gibt einen guten Rat mit auf den Weg: «Nehmen Sie genügend zu trinken mit, der Valserberg ist trocken.» Die eingewanderte Südtirolerin kümmert sich diskret aber aufmerksam um die Gäste, die in ihrer Pension übernachten. Seit einigen Jahren sind es häufiger solche, die den «Walserweg Graubünden» unter die Füsse nehmen. In Hinterrhein, unserem Startort, endet die erste und beginnt die zweite von offiziell 23 Etappen. Der Themenweg führt kreuz quer durch den Kanton Graubünden von San Bernardino in den Rätikon. Er sucht auf seinen 300 Kilometern die verstreuten historischen Walsergebiete auf, die auf der Karte aussehen wie ein Flickenteppich.

Der Walserweg ist keine historisch verbürgte Route der Walserwanderungen im Mittelalter, sondern eine neuere «Erfindung», die aber nach Möglichkeit Strecken benutzt, die für die Walser wichtig waren. Die Bündner Walser und ihre Herkunft waren lange in Vergessenheit geraten. Erst das 1968 veröffentlichte sehr erfolgreiche Buch des Germanisten Paul Zinsli «Walser Volkskultur» brachte Geschichte und Kultur ins Bewusstsein des breiten Publikums zurück. Zusammen mit der 1960 gegründeten Walservereinigung bereitete es den ideellen Boden für den Walserweg. Grundlage für die durchgehend mit der Routennummer 35 von Schweiz Mobil gekennzeichnete Strecke ist die vor zehn Jahren eingereichte Diplomarbeit der Geografin Irene Schuler.

Hinterrhein ist von alters her nicht nur ein Bauerndorf, sondern auch vom regen Passverkehr geprägt. In der gepflasterten Hauptgasse steht das stattliche Rothaus mit der runden Toreinfahrt. Es war früher ein Säumerhaus. Die Säumerei spielte in der ganzen Region bis im 19. Jahrhundert eine wichtige wirtschaftliche Rolle. Die einheimischen Transporteure beförderten die Waren über den Splügen und den San Bernardino, und sie unterhielten gleichzeitig die Saumpfade. Die Zeiten und die Dimensionen haben sich seither gründlich geändert. Heute fährt der motorisierte Nord-Süd-Verkehr auf der Autobahn unterhalb des Dorfs durch, ohne Halt zu machen.

Älteste Walsersiedlung

Ich habe einen guten Liter Tee dabei, als ich am Morgen aufbreche durch die Gassen des kleinen Orts. Vor den Steinhäusern trocknen Holzstösse, Geranien setzen Farbtupfer in die bescheidenen Fensteröffnungen. Hinterrhein gilt als älteste Bündner Walsersiedlung. Um 1270 sollen sich erste Einwanderer aus dem Pomatt (Val Formazza) im Rheinwald niedergelassen haben. Der Historiker Florian Hitz bezeichnet die Siedlungstätigkeit der aus dem Oberwallis stammenden Walser in Graubünden als «Teil der Binnenkolonisation des Alpengebiets im Mittelalter.»

Der 2504 Meter hohe Valserberg ist der Pass von Hinterrhein ins Peiltal und nach Vals. Er ist zentraler Teil der historischen Valserbergroute von Ilanz ins Misox, die ebenfalls einen regen Saumverkehr kannte. Die Waldgrenze ist rasch erreicht. Die Landschaft wird kahl und karg, hochalpin. Am Wegrand glänzen Silberdisteln. Auf der Passhöhe hat sich der Winter schon einmal angemeldet. Es liegt ein Schümli Schnee, das in der Sonne aber rasch schmilzt, denn der Tag ist hell, die Fernsicht könnte nicht besser sein.

Rechts zeigt sich das Valserhorn, links der Wenglispitz – dazwischen hat es viele weitere prächtige Hörner und Pizzi, Täler, Buckel und darüber leuchtet der blaue Himmel mit ein paar weissen Wolken. Es geht gleich hinab ins Peiltal, an dessen rechter Flanke sich der Pfad schmiegt. Er führt nach Wallatsch: Hier lebte um 1300 einer der ersten Walser Siedler lebte, dessen Name überliefert ist: Albertus de Zavallascha de Valdereno, Albert Wallatsch aus dem Rheintal.

Wallatsch bedeutet «wüstes Tobel». Ein Graben reisst den Hang auf, aber der aufgeklärte Wandermensch empfindet ihn heute als sehr anmutig, überquert frohgemut den rauschenden Wildbach auf dem dicken Holzbrett, durchquert später den Weiler Tschifera.

Zwischen Walserhaus und Hochhaus

Nach sechs Stunden stehe ich in Vals auf dem grosszügigen gepflasterten Platz mit dem achteckigen Brunnen. Nach all dem Tee geniesse ich auf der Hotelterrasse den Weissen in der Abendsonne. Auf dem Platz hat es nur wenig Verkehr, man hört, wie sich Einheimische und Gäste unterhalten. Es ist einer der schönsten und Dorfplätze in den Schweizer Alpen. Im Süden steht die katholische Kirche, im Norden begrenzen ihn die beiden Gasthäuser, darunter das vom bekannten Bündner Architekten Gion A. Caminada umgebaute Alpina. Am meisten bestricken mich aber mit ihrem rustikalen Charme die unter Steindächern geschützten mehrstöckigen Holzhäuser aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Die Fachleute nennen sie Strickbauten, weil die Fassadenbalken in den Ecken in der Art von Blockhäusern verwoben sind.

Es seien «typische walserische Holzbauten» steht im Kunstführer durch die Schweiz. Aber die Dinge scheinen komplizierter zu sein, sogar in der angeblich einfachen ländlichen Welt: «Das sogenannte Walserhaus ist ein Phantom», schreibt der Bauernhausforscher Jean-Pierre Anderegg im Wanderführer «Walserweg Graubünden». In Realität gebe es einen «faszinierenden Reichtum an Haustypen.» Die Auswanderer nahmen zwar die Bautechniken aus dem Oberwallis mit und verwendeten als Material für die Fassaden oft Lärchenholz. Sie passten die Bauweise aber ganz pragmatisch ihren neuen Lebensräumen an und waren offen für Einflüsse aus der Nachbarschaft. Wo das Holz fehlte, bauten sie mit Stein.Längst ist Vals in der Globalisierung angekommen. Die Einheimischen leben vom Tourismus, vom guten Mineralwasser, das dem Coca-Cola-Konzern gehört, von den Steinbrüchen, in denen der Valser Quarzit gewonnen und dann in die halbe Welt verschickt wird.

Auch die bekannte Therme Vals des Architekten Peter Zumthor ist damit ausgekleidet. Sie verhalf dem Badetourismus zu neuem Schwung und lockt laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung «hippe Städter, Intellektuelle und Kantonsschullehrer» an. Seit 2012 gehört sie dem aus Vals stammenden Immobilienunternehmer Remo Stoffel, der mit einem verwegenen Projekt für heftige Diskussionen sorgt. Die Medien sprechen von einem Dorfkrieg. Stoffel möchte am Eingang des Tals für die gutbetuchten Bergliebhaber dieses Planeten das höchste Hotel der Welt errichten, samt Helikopterlandeplatz. 381 Meter hoch soll es werden. Ob der Turmbau zu Vals je in Angriff genommen wird, steht in den Sternen; wohl eher nicht. Die stolzen Walserhäuser würde er jedenfalls in jeder Hinsicht in den Schatten stellen.

Der schöne Tomülpass

Am nächsten Morgen sieht alles friedlich aus. Es schäumt nur der Valser Rhein zwischen hohen Mauern schnurgerade durch das 1000-Seelen-Dorf. Der nächste Pass wartet: der Tomül, der ins Safiental führt. Es ist ein prächtiger Wanderpass, prächtiger und höher als Stoffels Turm. Vor allem der Aufstieg verdient die Note 6. Man geht zunächst durch den Arvenwald, erreicht den Riedboda, ein von Wasseradern durchzogenes Hochmoor und dann die Alp Tomül. Hier warnen die Murmeltiere ihre Artgenossen mit gellenden Pfiffen durch die Nagezähne vor Greif- und Wandervögeln und im Herbst vor den Jägern.

Noch eine Stufe und ein paar Kurven näher an den Sternen liegt auf 2412 m.ü.M die Passhöhe. Gegen Süden erstreckt sich zum Strätscherhorn hin eine einladende Hochebene mit kleinen Bergseen. Im Westen ragen neue zerklüftete Felsengebirge mit romanischen und walserdeutschen Namen empor. Sie heissen Pizzas d’Anarosa und Alpenschällihorn und sind seit eh und je gute Nachbarn – so wie es die Walser und die Romanen im Bündnerland meist auch waren, obschon am Anfang Spannungen nicht ausblieben. Die Walser liessen sich vom 13. bis im 15. Jahrhundert in meist höheren Lagen neben der ansässigen Bevölkerung nieder und germanisierten nach und nach rätoromanische Talschaften.

Den Weg ins Safiental mit den angenehmen Kehren haben 1941 polnische Internierte gebaut. Er ist gepflastert und von Trockenmauern gestützt, aber immer dem Gelände angemessen und hundertmal schöner als die zweifellos teure neue Betonpiste, die im unteren Teil die Alpen erschliesst und wie ein Faust aufs Auge wirkt. Die Etappe endet auf der Terrasse des Turrahauses, einem 300-jährigen Walserhaus, wo man sehr angenehm auf das Postauto warten kann. Dieses kurvt dann in einer langen Fahrt hinunter in die Rheinschlucht mit ihren bizarren Felsformationen, die man später mit der Rhätischen Bahn durchquert: Der öffentliche Verkehr serviert ein willkommenes Dessert zur Fussreise.

Anreise:

Mit dem Zug via Chur und Thusis;

mit dem Postauto noach Hinterrhein.

Rückreise:

Mit dem Postauto nach Versam-Safien Bahnhof. Mit der RhB nach Chur.Tipp: Fürs genussvolle Wandern sind nicht alle Etappen in gleicher Weise geeignet, einzelne weisen recht viel Hartbelag auf. Ausser den zwei beschriebenen Etappen sind auch empfehlenswert:

Etappe 1 San Bernardino–Hinterrhein, besonders Variante durch das Val Curciusa;

Etappe 11: Alp Flix–Ela-Hütte, Abstieg dann besser nach Bergün statt Filisur;

Etappen 13 bis 15: Filisur–Monstein; Monstein–Sertig Dörfli; Sertig Dörfli–Davos.

Literatur: Irene Schuler, Walserweg Graubünden, Rotpunktverlag Zürich www.walserweg.ch

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