Touren in die Natur

Die Korrektur von Natur und Mensch

Die flache Wanderung durch das Grosse Moos entlang von Kanälen und Seen ist auch ein Gang von Knast zu Knast. Diese wurden hier nach der Juragewässerkorrektur angesiedelt. Zur Korrektur der Gefangenen.

Im Grossen Moos gibt es nebst viel Gemüse auch etliche Haftanstalten. Die Wanderung lohnt sich aber nicht nur, weil man angesichts der Zäune und Videoüberwachung den Wert der Freiheit umso mehr schätzt und sich vielleicht beim Gehen überlegt, wie wenig selbstverständlich sie ist. Die Route ist auch landschaftlich reizvoll. Sie führt meist dem Wasser entlang, Kanälen und Seeufern, und wird kaum je von Hartbeleg beeinträchtigt. Nur: Eine typische Schweizer Strecke ist sie nicht, denn es geht über höchst flaches Land.

Die Korrektur des Menschen

Doch warum ist das Grosse Moos eine Gefängnisregion? Sicher spielte das Bedürfnis eine Rolle, die Straftäter von der übrigen Bevölkerung zu trennen, aber es war auch ein «aufklärerischer» Ansatz dabei, als die Kantone Bern und Freiburg am Ende des 19. Jahrhunderts im Abstand von wenigen Kilometern und wenigen Jahren das Gefängnis Witzwil und den Pénitencier de Bellechasse eröffneten. Während man früher die Verurteilten einfach zur Strafe wegsperrte und sie in dunklen Verliessen ihrem Schicksal überliess, begann im 19. Jahrhundert die Erkenntnis zu reifen, der Freiheitsentzug könne zur «Besserung» der Gefangenen beitragen. Neben der Sühne für die Tat diente die Strafzeit fortan der Resozialisierung.

Zur Besserung beitragen sollte die Arbeit, vor allem landwirtschaftliche Tätigkeiten. Dazu brauchte es Land. Bern und Freiburg fanden es im Grossen Moos. Die Landwirtschaftsbetriebe von Witzwil und Bellechasse sind mit 825 Hektaren bzw. 700 Hektaren noch heute die grössten der Schweiz. Während der beiden Juragewässerkorrekturen im 19. Jahrhundert hatten die Ingenieure Flüsse und Bäche in Kanäle umgeleitet und den Spiegel der Jurarandseen abgesenkt:  Aus der Sumpflandschaft entstand ein weitgehend unbewohntes Landwirtschaftsgebiet. Das Werk entsprach dem Geist der Zeit. Der Industrialisierung, erschien alles machbar, veränderbar, korrigierbar: sogar der Mensch, was auch im Strafvollzug Wirkung zeigte. Die Gefängnisse hiessen nun Besserungs- oder Korrektionsanstalten. Die Wortverwandtschaft mit der Gewässerkorrektur ist kein Zufall. 

Durch den Chablais-Wald

Ich nehme den Zug bis Löwenberg bei Murten und wandere durch das Chablais Richtung Sugiez. Ein federnder, mit Holzspänen belegter Weg leitet durch diesen Auenwald am Nordostufer des Murtensees, an dem sich das schönste Flachmoor im Kanton Freiburg erstreckt. Bis 1980 hat der Kanton schnell wachsende Pappeln angepflanzt, die man zu Holzkisten und Streichhölzern verarbeitete. Das rentiert schon lange nicht mehr. Der Wald ist auf dem Weg zurück zur Natur, er hat sogar etwas Urwaldhaftes. Abgestorbene Bäume bleiben liegen und bilden Lebensräume für Pilze, Kleingetier und Wildschweine. Rechts in der Ebene befindet sich in einiger Entfernung das Gefängnis Bellechasse. Es beherbergt rund 200 Personen, «die von den Gerichtsbehörden der Westschweizer Kantone und des Tessins verurteilt wurden und die sich im offenen oder halboffenen Strafvollzug befinden» informiert das Justizdepartement.

In Sugiez, am Fuss des Wistenlacherbergs, beginnt der Broyekanal. Er verbindet den Murtensee mit dem Neuenburgersee. Ich folge dem angenehmen Wanderweg auf der linken Seite. Ab und zu fährt ein Schiff vorbei, Schwäne gleiten über die Wasserfläche. Weiter unten staksen elegante Vögel durch eine Weide. Ich beachte sie erst richtig, als ich auch die Ornithologen entdecke, die sich ihnen mit grossen Teleobjektiven zu nähern versuchen. Einer erklärt mir, es seien Oies cendrés, Graugänse, die hier im frühen Frühling auf dem Weg in den Norden Zwischenstation machen. Für die Vogelfreunde sind sie eine Sensation.

Nun bin ich auf der rechten Seite des Kanals, den ich auf der gebogenen Velobrücke überquert habe: die grösste Steigung, die es auf dieser Flachlandroute zu überwinden gilt. Bald komme ich nach La Sauge und in die Nähe des Vogelreservats von Le Fanel am Neuenburgersee. Es ist eines der bedeutendsten Brut- und Überwinterungsgebiete für Wasservögel in der Schweiz. Viele Entenarten, Möwen, Eisvögel, Nachtigallen oder Pirole nisten hier. Ein Abstecher zum Aussichtsturm lohnt sich und auch das Mittragen eines guten Feldstechers.

Bei Witzwil

Später komme ich auf das Gelände der Haftanstalt Witzwil. Sie wurde 1894 in Betrieb genommen und ein Jahr danach zur weltweit ersten offenen, landwirtschaftlich orientierten Strafanstalt ausgebaut. Johann Otto Kellerhals, der sie während 42 Jahren leitete, galt als Pionier dieser Form des Strafvollzugs. 

Mit zu Witzwil zählte früher der Tannenhof, zu dem ich einen Abstecher mache. Es ist heute eine schön gelegene Heim- und Wiedereingliederungsstätte für Leute mit psychischen und sozialen Problemen. In einem Schopf hat es eine Cafeteria. Schon von weitem ruft mir ein Gast zu, ob ich «es Kafi» möchte. Warum nicht? Er setzt mit seinem Schlüssel, den er um den Hals trägt, den Automaten in Aktion. Der Becher Kaffee kostet drei Franken. Er heisse Peter, sagt er, sein Freund sei der Urs. Ich solle doch wieder mal vorbeikommen, sie seien fast immer hier, ausser wenn er mit seinem elektrischen Dreirad ins Camping von Gampelen fahre. Wir fachsimpeln zu dritt übers Reisen. Er will wissen, ob er mit dem Elektrotöff bis nach Bern oder sogar Olten fahren könnte, der Akku reiche für 80 Kilometer.

Ich gehe weiter, dem Ufer des Neuenburgersees entlang, wo es keinen markierten Wanderweg, aber eine Spur am Waldrand hat. Bald erreiche ich den Zihlkanal, der vom Neuenburger- zum Bielersee leitet. Eine Promenade säumt das linke Ufer, vorbei an der Raffinerie Cressier und an einem alten Lauf der Zihl, wo man fast immer Eisvögel mit raffinierten Farben und Bewegungen herumschwirren sieht.

Zum Abschluss das Schiff

Am Schluss kommt man zu einem weiteren Knast. Die offene Justizvollzugsanstalt St. Johannsen soll psychisch belasteten oder suchtkranken Straftätern helfen «zu einem eigenverantwortlichen Leben zu finden und die Rechte anderer zu achten», lautet hier der Grundsatz. Der historische Teil ist in einem alten Kloster untergebracht. Vor einigen Jahren kam die Anstalt nach einem Ausbruch als «Skandalknast» und Teil der «Kuscheljustiz» ins Gerede. Es ist allerdings erwiesen, dass die Rückfallquote im offenen Strafvollzug niedriger ist als bei strengeren Bedingungen, denn er bereitet besser auf das Leben in Freiheit vor. Nicht alle sind ihr gewachsen. Der Weg zwischen Sicherheit für die Gesellschaft und humanem Strafvollzug bleibt auch im flachen Seeland eine Gratwanderung.

Schon unterwegs konnte man mehrmals auf den öffentlichen Verkehr umsteigen: aufs Schiff, was eine zusätzliche Attraktion ist. Auch in Erlach hat es eine Anlegestellt, so dass man die Reise von Knast zu Knast mit einer Fahrt über den Bielersee abschliessen kann.

Anreise: Mit der S-Bahn bis Muntelier/Löwenberg

Rückreise: Ab Erlach mit dem Postauto bis zum Bahnhof Ins oder mit dem Schiff nach Biel

Wege: Meistens markierte Wanderwege. Zwischen La Sauge und Gampelen folgt man den Wegen in Ufernähe. Vor dem Camping Gampelen auf den Wanderweg im Wald bis Zihlbrücke, hier auf der Bahnbrücke ans linke Zihlufer wechseln.

Länge: 24 km Wanderzeit: 5 ¾ Std. Mehrere Abkürzungsmöglichkeiten, z.B. bis Zihlbrücke (S-Bahn-Haltestelle).

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