Schräg gegenüber vom Bahnhof Oostende kaufen wir einen Dreitagespass, das Abenteuer beginnt. Wimmernd setzt sich das Tram namens «De Lijn» in Bewegung, fährt durch grossstädtische Strassenschluchten, vorbei an Casinos, Hotelpalästen, Hochhäusern und Sportplätzen, biegt links ab, wird schneller, und der Horizont weitet sich. Wir drücken die Nasen an die Scheiben und schauen, was das Auge fassen mag. Oostende liegt hinter uns, der Fahrer dreht auf, das Tram schlingert mit fünfzig Sachen über die Schienen. Wir glauben zu fliegen. Rechts erstreckt sich der Strand zum offenen Meer, Personen gehen barfuss im Sand, Hunde wetzen im Wind herum, die Köpfe schwimmender Menschen bewegen sich auf den spiegelnden Wellen, das Tram rast der tief stehenden Sonne entgegen.
«De Lijn», die Linie, macht den Weg zum Ziel, verzaubert die Kulisse zur vorbeischaukelnden Augenweide. Dann steigt man aus, macht ein Stück zu Fuss, nimmt wieder das Tram. Für den Gast ist das ein exotisches Vergnügen. Beim Auskosten dieser Exotik vergisst er den Kanon touristischer Ästhetik besser. Wohl gibt es vom östlich gelegenen Het Zwin über Nieuwpoort bis Koksijde im Westen ein paar Nischen-Naturschutzgebiete mit Dünen, doch über weite Strecken ist die Küste dicht bebaut.
Die urbane Silhouette wird von der Senkrechten beherrscht. Sie wirkt industriell, und die Industrie heisst Tourismus. Manche Besucherinnen und Besucher, welche die Küste zum ersten Mal sehen, finden sie schlicht hässlich. In der Tat verscheucht das architektonische Tohuwabohu mancherorts jede Idee von Idylle, man kommt sich zuweilen vor wie auf einer Geisterbahn. Doch nach einer Weile bringt einen diese Nähe von Natur und Menschenwerk auf überraschende Gedanken.
Sommerfrische mit Profit
Bis ins 19. Jahrhundert sind da Nordsee, Sand, Wind und Sonne. Dann kommt der Mensch mit seiner Idee der Sommerfrische ans Meer, es entstehen mehr oder weniger mondäne Seebäder, im 20. Jahrhundert sind es deren fünfzehn. Zuerst ist die Natur dadurch geschützt, dass sich nur wenige Reiche die Sommerfrische leisten können. In den 1930er-Jahren werden in Belgien bezahlte Ferien eingeführt, an der Küste wird wie wild spekuliert und gebaut. Ein scharfer Kritiker dieser Bauerei ist der Oostender James Ensor (1860−1949). Dieser Maler bleibt seiner Heimatstadt ein Leben lang treu und schafft ein OEuvre, das von diesseitiger Lebenslust manchmal hinübergleitet in beklemmende Weltuntergangs- und Höllenvisionen. Ausserdem kämpft er mit Zeitungsartikeln an gegen Architektur, die sich nur am Profit orientiert, trägt dazu bei, dass zwei zerstörerische Bauvorhaben nicht ausgeführt werden.
Profit? Sehr wohl, gebaut werden aber nicht Villen, sondern Hochhäuser mit bezahlbaren Ferienwohnungen fürs Volk, so dass nicht nur einige Privilegierte, sondern viele Menschen den Sonnenaufgang über dem Meer geniessen können. Die Küstenanlage sieht über weite Strecken so aus: Da sind die dicht aneinander gebauten Hochhäuser, hier ist die Enge. Darunter ist eine grosszügige, dreissig bis vierzig Meter breite Promenade ausschliesslich für Fussgängerinnen und Fussgänger. Von deren Rand zieht sich der Sandstrand je nach Gezeit in einer Breite von zwei- bis dreihundert Metern fast flach nach vorne hin bis an die Wellen der Nordsee, dort ist die unendliche Weite.