Eine soziale Umweltsünde

Der Skulpturenpark «Rock Strangers» von Arne Quinze setzt einen Kontrast zur eher öden Stadtarchitektur Oostendes.

Warum fahren kaum Gäste aus der Schweiz an die belgische Küste? Das VCS-Magazin will es wissen und stösst dabei auf Überraschendes.

Schräg gegenüber vom Bahnhof Oostende kaufen wir einen Dreitagespass, das Abenteuer beginnt. Wimmernd setzt sich das Tram namens «De Lijn» in Bewegung, fährt durch grossstädtische Strassenschluchten, vorbei an Casinos, Hotelpalästen, Hochhäusern und Sportplätzen, biegt links ab, wird schneller, und der Horizont weitet sich. Wir drücken die Nasen an die Scheiben und schauen, was das Auge fassen mag. Oostende liegt hinter uns, der Fahrer dreht auf, das Tram schlingert mit fünfzig Sachen über die Schienen. Wir glauben zu fliegen. Rechts erstreckt sich der Strand zum offenen Meer, Personen gehen barfuss im Sand, Hunde wetzen im Wind herum, die Köpfe schwimmender Menschen bewegen sich auf den spiegelnden Wellen, das Tram rast der tief stehenden Sonne entgegen.
«De Lijn», die Linie, macht den Weg zum Ziel, verzaubert die Kulisse zur vorbeischaukelnden Augenweide. Dann steigt man aus, macht ein Stück zu Fuss, nimmt wieder das Tram. Für den Gast ist das ein exotisches Vergnügen. Beim Auskosten dieser Exotik vergisst er den Kanon touristischer Ästhetik besser. Wohl gibt es vom östlich gelegenen Het Zwin über Nieuwpoort bis Koksijde im Westen ein paar Nischen-Naturschutzgebiete mit Dünen, doch über weite Strecken ist die Küste dicht bebaut.
Die urbane Silhouette wird von der Senkrechten beherrscht. Sie wirkt industriell, und die Industrie heisst Tourismus. Manche Besucherinnen und Besucher, welche die Küste zum ersten Mal sehen, finden sie schlicht hässlich. In der Tat verscheucht das architektonische Tohuwabohu mancherorts jede Idee von Idylle, man kommt sich zuweilen vor wie auf einer Geisterbahn. Doch nach einer Weile bringt einen diese Nähe von Natur und Menschenwerk auf überraschende Gedanken.

Sommerfrische mit Profit

Bis ins 19. Jahrhundert sind da Nordsee, Sand, Wind und Sonne. Dann kommt der Mensch mit seiner Idee der Sommerfrische ans Meer, es entstehen mehr oder weniger mondäne Seebäder, im 20. Jahrhundert sind es deren fünfzehn. Zuerst ist die Natur dadurch geschützt, dass sich nur wenige Reiche die Sommerfrische leisten können. In den 1930er-Jahren werden in Belgien bezahlte Ferien eingeführt, an der Küste wird wie wild spekuliert und gebaut. Ein scharfer Kritiker dieser Bauerei ist der Oostender James Ensor (1860−1949). Dieser Maler bleibt seiner Heimatstadt ein Leben lang treu und schafft ein OEuvre, das von diesseitiger Lebenslust manchmal hinübergleitet in beklemmende Weltuntergangs- und Höllenvisionen. Ausserdem kämpft er mit Zeitungsartikeln an gegen Architektur, die sich nur am Profit orientiert, trägt dazu bei, dass zwei zerstörerische Bauvorhaben nicht ausgeführt werden. 
Profit? Sehr wohl, gebaut werden aber nicht Villen, sondern Hochhäuser mit bezahlbaren Ferienwohnungen fürs Volk, so dass nicht nur einige Privilegierte, sondern viele Menschen den Sonnenaufgang über dem Meer geniessen können. Die Küstenanlage sieht über weite Strecken so aus: Da sind die dicht aneinander gebauten Hochhäuser, hier ist die Enge. Darunter ist eine grosszügige, dreissig bis vierzig Meter breite Promenade ausschliesslich für Fussgängerinnen und Fussgänger. Von deren Rand zieht sich der Sandstrand je nach Gezeit in einer Breite von zwei- bis dreihundert Metern fast flach nach vorne hin bis an die Wellen der Nordsee, dort ist die unendliche Weite.

Familie mit Pudeli

Kaum schickt die Sonne einen Strahl, flanieren die Menschen zu Tausenden auf den Promenaden. Familienweise sind sie unterwegs, mehrere Generationen, die Bébés in den Kinderwagen, die Alten am Rollator, begleitet vom obligaten Pudel. Zu jeder belgischen Familie gehört ein Pudeli. Zwei Stunden Sonne, und die Lebensfreude explodiert. Nicht zu früh, erst gegen Mittag, lassen sie sich am Strand nieder, wo alles nach strengen Regeln abläuft. Jeder Abschnitt hat seinen eigenen Namen, seine Kabinen, Strandkörbe und Sonnenschirme in eigener Farbe. Die Anhängerschaft der Schlankheitsreligion bildet eine Minderheit, die Szenerie ist von barocker Lebensfülle. Selbstbewusst drapieren sie ihr vom Sonnenbrand krebsrotes Übergewicht in der prallen Sonne. Nach der Strandséance werden die Füsse mit dem Bürstlein, das am Ausgang hängt, akkurat vom Sand befreit.

Moules mit Pommes frites

Die belgischen Freunde verstehen nicht, wieso ihre Küste uns Helvetierinnen und Helvetier fasziniert. Sie, die Belgier, sind begeistert von unseren Bergen. Sie schwärmen vom Gebirge, wir loben das flache Land, die flache See, wo wir einmal keine Berge vor dem Kopf haben. Da spüren wir eine Freiheit in einer vollkommen anderen Landschaft, und wir lieben «De Lijn», das verrückte Küsten-Traum-Tram. Manchmal fangen wir im Westen an, wir wandern, wir spazieren, wir flanieren, bis wir müde Füsse haben, dann erholen wir uns in einer der gemütlichen Kneipen sonder Zahl, essen zum Bier Moules und Pommes frites.
Belgien und die Schweiz, sie gleichen sich in manchem, doch es gibt auch Unterschiede. Einer von ihnen ist der: Belgien hat eine einzige Küste, und die ist dem Publikum vom Anfang bis zum Ende zugänglich. Die Schweiz hat ein Dutzend grosse Seen, und nicht einen einzigen von ihnen kann man an der Wasserkante umrunden.

Dres Balmer schreibt Reportagen und Bücher übers Reisen. Zuletzt erschien der Titel «Querpass, in neun Etappen durch die Schweiz» beim Werd & Weber Verlag.

Informationen

Die Küste ist ein Fundstück für Stadtwandernde und ideal für ein verlängertes Wochenende. Das zentrale Oostende ist eine gute Basis. Die Bahnfahrt von der Schweiz über Deutschland oder Frankreich nach Oostende dauert rund neun Stunden.
Am besten unterwegs ist man zu Fuss und mit dem Tram, das die ganzen 65 km Küste erschliesst.

Auskünfte bei Toerisme Oostende, Monaco-Plein 2, Oostende; www.visitoostende.be/de

Zwei Hotels mit besonderem Cachet: In Oostende, Groentemaart 19 das Hotel Polaris, in Westende am Zeedijk 300/7 das Jugendstil-Hotel Rotonde, www.tripadvisor.de.
Literatur: Reinhard Tiburzy, «Belgische Küste», DuMont Reisetaschenbuch 
James-Ensor-Haus: Vlaanderenstraat 29, Oostende, www.jamesensorhuis.be​​​​​​​

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