Murat ist ein sanfter Mensch, aber wenn er zum Bildschirm schaut und Recep Tayyip Erdoğan in grosser Pose ein Edikt verkünden sieht, gerät er in helle Aufregung. Er faltet seine Hände und schaut zum Himmel hoch, obwohl er unterdessen weiss, dass von oben keine Hilfe kommt. Dann tritt er energisch mit dem rechten Fuss ins Leere, eine ungelenke Pantomime, die bedeutet, dass man diesen türkischen Präsidenten aus allen Ämtern kicken soll. «Seit Recep das Land regiert, kommen keine Touristen mehr», sagt er.
Der untersetzte Mann führt ein schönes Hotel, das in einer mittelgrossen Stadt Kappadokiens (Zentralanatolien) selbstbewusst neben der Moschee am Hauptplatz steht. Rundherum pulsiert das Leben. Marktstände, an denen Früchte, Socken und Unterhosen angeboten werden. Kleine Reparaturwerkstätten, Kuaförsalons und Restaurants locken mit ihren Angeboten.
Wie dem missgelaunten Murat ergeht es derzeit jenen, deren Lebensunterhalt von ausländischen Besucherinnen und Besuchern abhängig ist. Abschreckend auf Touristen seien vorab der Putschversuch vom Juli 2016, der Ausnahmezustand und die anhaltenden Verhaftungen von Kritikern des Regimes. Wer momentan abseits touristischer Zentren die Türkei bereist, wird täglich mit diesem Thema konfrontiert.
Land der Kontraste
Ich reise mit Zug, Schiff und Bus zur griechisch-türkischen Grenze. Die Radroute verläuft im Landesinneren, von Ipsala bis zum heiligen Berg Ararat nahe der iranischen Grenze. Gleich einer Zeitreise scheine ich verschiedene Länder zu passieren. Die Unterschiede zwischen dem türkischen Europa und Asien sind gross, ebenso jene zwischen Stadt und Land. Ärmliche Gegenden kontrastieren mit «modernen», protzigen Kleinstädten.
Nach den Mischwäldern in den westlichen Gebirgsregionen durchquere ich die Hochlandebenen Zentral- und Ostanatoliens zwischen 1500 und 2000 Metern über Meer. Durch steppenartiges, dünn besiedeltes Weideland, wo Bauernfamilien dem Boden Zuckerrüben, Getreide oder Tabak abtrotzen und grosse Schafherden in der kargen Landschaft nach Gräsern suchen, eingerahmt von Hügelzügen, die in der flirrenden Hitze fast verschwinden am Horizont.
In der ersten Woche suche ich einsame Wege. Sie enden oft unvermutet oder sind selbst mit dicken Fahrradreifen kaum passierbar. So befahre ich meistens Hauptstrassen, die ausserhalb der Städte recht verkehrsarm sind.
Viel Gastfreundschaft
Auf rund 2200 Fahrradkilometern treffe ich im Herbst hochsommerliches Wetter an, aber keinen Radtouristen. Ich erscheine derart ungewöhnlich, dass die lokale Presse in Akșehir eine Reportage über mich publizieren will. Ich lehne ab. Gerne lasse ich mich aber auf die Menschen ein, die interessiert und gastfreundlich sind, derart, dass man sich daran gewöhnen muss.
In Lapseki beschenkt mich eine Frau auf dem Markt wortlos mit Pfirsichen und Orangen. Der Kuaför will kein Geld für meinen Haarschnitt und schenkt mir ausserdem ein Buch. In Çan werde ich vom Hotelier zum privaten Grillabend eingeladen. Mindestens einmal pro Tag spendiert mir jemand einen Tee. Ein Student wartet zwei Stunden auf meinen Bus, nur um dem Chauffeur zu sagen, wohin ich möchte und ob er mir ein Hotel organisieren könne. Dabei ist die Suche kaum je ein Problem. Ich fahre zum grossen Platz, wo einige Männer beieinandersitzen, und frage nach einer Unterkunft. Alman? Ingilizce? Eine Minute später tritt einer aus der Gruppe und spricht Deutsch.