Und schon stehen wir, 400 Meter höher, in der obersten Etage des Seetals, im ausgedehnten, von erstaunlich viel Grün durchzogenen Vorfeld, das der Seegletscher geräumt hat. Links der düstere Schottensee, in der Felskulisse vor uns irgendwo unser Passübergang. Der Pfad ist nicht mehr überall ausgeprägt, aber bestens markiert. Bald treffen wir auf den Weg, der von der Saarbrücker Hütte im Kromertal (A) über die Seelücke hierher führt. Der steile Schlussaufstieg ins Plattenjoch (2727 m) treibt den Puls nochmals kräftig in die Höhe.
Grenzen verbinden, Grenzen trennen, Grenzen sind abbau-, verschiebbar und vergänglich, aber plötzlich ganz schnell auch wieder hochgezogen. So oder ähnlich sinnieren wir jeweils, wenn wir wie heute von einem Land ins andere wechseln. Was für ein Glück, einfach darüber hinwegsetzen zu können. Von der tragischen Zeit dieses Grenzabschnitts während des Naziregimes erzählt sommers im Montafoner Dorf Gargellen ein Stationentheater an Originalschauplätzen: Es vermittelt unter die Haut gehende Geschichten von Fluchtversuchen, Geschichten übers Schlechteste und Beste, wozu der Mensch in Extremsituationen fähig ist – und beleuchtet Grauzonen dazwischen. Die Vorstellungen sind seit Jahren permanent ausgebucht.
Die ersten 100 Höhenmeter auf österreichischem Boden sind ein einziges Vortasten und Rutschen: über Moränenschutt und um Felsbrocken herum, zwischen denen Blankeis bleckt, kümmerliche Reste des Plattengletschers. Anfangs Saison, mit einer noch schön dicken, griffigen Schneedecke, wäre diese Passage bestimmt vergnüglicher.
So wanderte man gern bis Tübingen
Den restlichen Abstieg schaffen wir, dünkt uns, elegant und zügig, sosehr ihn Murmeltiere auch mit Pfiffen quittieren. Die Tübinger Hütte (2191 m) entspricht vollauf unseren Erwartungen: gastlich und (sehr) gut belegt das Haus, währschaft die Küche. Beim Gutenachtbier auf der grossen Terrasse schauen wir besorgt zum Himmel: Ob das Wetter hält? Ob uns der Tübinger Höhenweg morgen den traumhaften Überblick über das Montafon beschert, den er verspricht?
Um acht Uhr nieselt es. Trotzdem brechen wir auf, umrunden den Talkessel, überqueren einen ersten Wildbach, einen zweiten, einen dritten … Auch das Garneratal steuert viel Rohstoff zur Versorgung der Region mit einheimischer Energie bei. Der Himmel stellt den Nachschub ein, und wir kommen zur Verzweigung, wo wir gelandet wären, hätten wir uns für die Variante Carnäira-Joch entschieden (von Klosters zum hübschen Bergdorf Schlappin, von dort in vier Stunden auf unproblematischem Bergwanderterrain zur Tübinger Hütte).
Der Aufstieg ins Vergaldner Joch (2511 m) führt durch eine versteckte Geländekammer, danach ist man dem Himmel ständig ganz nah: zuerst auf der Krete, die zur Heimspitze hinüberzieht, nach dem Matschuner Joch dann auf dem Bergzug, in dessen Mitte die Madrisella (2466 m) thront, die den kleinen Umweg für die Gipfelbesteigung mehr als nur lohnt. Im Sommer dürfte für die in ihrer Ostflanke eingebetteten Seelein Gleiches gelten.