Hoffnung am Gänseberg

Den Nebel in der Lagune von Venedig können die Velofahrer geniessen.

Gletscherschmelze, verschmutzte Luft oder Raubbau. Es ist unschwer zu erkennen, wie verwundbar unsere Welt ist. Doch überall gibt es Menschen, die sich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen.

Nebel, so weit das Auge reicht. Ein Januarmorgen in der Lagune von Venedig. Es ist andächtig, es ist still. Die Fähre gleitet durch die Suppe. Plötzlich röhrt das Schiffshorn. Ein kleines Fischerboot ist im Weg, zieht an uns vorbei, verschwindet im Weiss. DannwiederRuhe.Wirgeniessendiekurze Überfahrt, bevor wir uns wieder in den Sattel schwingen, essen etwas Kleines, planen die heutige Etappe – wo wollen wir durch, wo könnten wir unsere Zelte aufstellen – und lesen ein wenig. 

Es ist der Anfang unserer journalistischen Veloreise zu den Schauplätzen der Klimaerhitzung. Anfang Januar machten wir uns in Bern auf den Weg und überquerten zuerst die Alpen. Auf dem Simplonpass lagen gerade einmal dreissig Zentimeter Schnee. Fünf Monate später schmelzen die Gletscher am Monte Leone und unterhalb des Fletschhorns schon unter der ersten Hitzewelle des Jahres dahin. Mit den Bergen im Rücken fuhren wir dann durch das flache, sonnige Norditalien in Richtung Balkan. 

Als wir in Punta Sabbioni unsere Velos von der Fähre stossen, die Helme aufsetzen, alles in unsere Taschen verstauen und losfahren, steuern wir den Tagliamento an. An diesem Fluss kämpfen Umweltaktivistinnen und -aktivisten seit Jahren gegen Staudämme, fragwürdige Hochwasserschutzanlagen, Autobahnbrücken – gegen alles, was das weitgehend unberührte und natürliche Flussökosystem aus dem Gleichgewicht bringen könnte. 

Aber zuerst wartet der Nebel auf uns. Die Einkaufsmeile ist im Winter gespenstisch. Die Rollläden der Geschäfte verriegelt. Ein paar Bauarbeiter setzen die Gehwege in Stand und zwei ältere Zwillingsbrüder warnen uns, die Velos nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Irgendwann geben wir die Hoffnung auf Sonne auf – immerhin sind die Bilder heute stimmungsvoll. Trotzdem bleiben die Zelte am Abend in den Taschen. Ein Unterstand einer kleinen Kirche tut es auch. Die Pasta schmeckt himmlisch. 

Am nächsten Morgen wartet in Latisana der wärmende Kaffee auf uns. Die Kleinstadt am Tagliamento wurde 1965 und 1966 zwei Mal weitgehend überflutet. Häuser wurden zerstört, Menschen verloren ihr Hab und Gut – manche ihr Leben. Seither will die Regierung den Fluss in den Griff kriegen. Mit Beton und Baggern. Das Problem seien aber die Menschen, sagt uns Chiara Scaini. 

Die Wissenschaftlerin erforscht Naturkatastrophen und stammt aus der Region. Ihre Eltern wohnen noch heute in Belgrado, ein paar Kilometer vom Fluss entfernt. Sie erklärt, dass die Dörfer viel zu nahe am Fluss gebaut seien. Ebenso die Felder, wo sinnlos Mais für Tierfutter angebaut wird – und zeigt uns eine Stelle, wo der mäandernde Tagliamento sich ein Stück Acker geholt hat. 

Über zwei Kilometer ist das Flussbett an manchen Stellen breit. Viel Platz, in dem sich der Tagliamento jedes Jahr einen etwas neuen Weg sucht. Platz, wo Vögel nisten und Fische laichen. Gemeinsam mit ihrer Schwester Anna erforscht Chiara Scaini seit Jahren die Bedeutung des Tagliamento: für die Natur, für das Ökosystem und nicht zuletzt für die Menschen, die hier leben. Dämme und andere Hochwasserschutzmassnahmen würden letztlich niemals die gewünschte Sicherheit bringen. Sie helfen einzig dem Prestige der Politikerinnen und Politiker, die etwas gegen die drohende Gefahr unternommen hätten. Besser wäre es, sagt Scaini, von einem der letzten natürlichen Flüsse Europas zu lernen. Wie wir dem Wasser und der Natur wieder mehr Platz geben könnten – gerade im Wissen, dass Extremwetterereignisse mit der Klimaerhitzung immer häufiger werden. 

In Sarajevo holt uns der Winter doch noch ein. Während wir die nächsten Rechercheorte ausfindig machen, fallen die Flocken auf die Köpfe der Tauben am Sebilj-Brunnen. Die Luft ist heute etwas weniger stickig – gehört aber immer noch zu den gesundheitsschädlichsten der Welt. Werden die Grenzwerte für Luftqualität an einem Tag mal nicht überschritten, gleicht das einem Wunder. Geheizt wird mit Kohle, überall verstopfen alte Autos die Strassen. Als wir aus der verschneiten Stadt herausfahren, schmerzen unsere Lungen. 

Wieder bleiben die Zelte ein paar Tage verstaut. In Foča ist es in der Nacht so bitterkalt, dass wir fast froh über unser muffiges Bett sind. Und als uns die Sonne in der eisigen Piva-Schlucht ins Gesicht lacht, strahlt auch das Herz wieder. Mit Cola und einer Packung Chips gelingt einmal mehr der Ritt in die nächste Stadt. 

Podgorica, Tirana, Thessaloniki ziehen an uns vorbei. Meist pausieren wir in den Städten, um Arbeit nachzuholen und vorzubereiten. Wir führen Recherchegespräche, schreiben Texte, knüpfen Kontakte und diskutieren über allfällige Umwege. Die Nächte im Zelt sind dabei auf dieser Reise wie kleine Auszeiten – ein bisschen Tagebuch führen, ein paar Bilder bearbeiten – mehr geben die kalten Finger nicht her. Im Winter auf Veloreise bedeutet vor allem auch: früh ins Bett. 

Der Bus nach Çanakkale ist halb voll. Nach sechs Stunden über Autobahnen und einer kurzen Überfahrt über die Dardanellen kommen wir in dieser geschichtsträchtigen Stadt an. Troja liegt ein paar Kilometer entfernt, an einer Felswand prangt ein Mahnmal für die Schlacht von Gallipoli. Doch wir sind wegen İlayda Gülsüm Çamlı hier. Die Aktivist*in wartet am Hafen auf uns. Ausi hrem Dorf am Fuss des Kaz Dağı – dem Gänseberg – ist sie in zwei Stunden per Autostopp gekommen, um uns zu treffen. Die letzten Jahre hat sie hier mit anderen gegen den Bau einer Goldmine angekämpft – mit Mahnwachen, Solikonzerten und trotz polizeilicher Repression. Irgendwann entschied das Gericht: Baustopp. Seither ruht der Widerstand. 

Çanakkale und Çamlıs Dorf liegen südwestlich von Istanbul – überhaupt nicht auf unserer Route Richtung Osten. Zum zweiten Mal entscheiden wir uns, eine Recherche motorisiert in Angriff zu nehmen. Mit dem Velo wäre es einfach zu weit. Das ist eine der Herausforderungen am Versuch, Klimajournalismus und Veloreise zu kombinieren. 

Auf dem Weg in Çamlıs Dorf zeigt sie uns das Waldstück, wo die Kirazlı-Goldmine hätte entstehen sollen. Nach einem kurzen Spaziergang durch den schönen Wald reisst plötzlich eine riesige Wunde auf. Zehntausende Bäume fehlen, eine gigantische Brache öffnet sich vor uns. Am Boden liegt Stacheldraht, der Zaun ist angerostet und eine Warntafel liegt im Dreck. Wo vor einigen Monaten noch Bagger und Wachpersonal standen, weiden heute Kühe. Çamlı sagt, das Gold solle im Boden bleiben. Wir hätten doch schon genug in unseren Bunkern. Und an das durch Cyanid vergiftete Trinkwasser denke niemand. 
Am Abend trinken wir Çay im kleinen Wohnzimmer von Çamlı und ihrem Partner. Der Ofen ist glühend heiss, die Decke grauschwarz vom Russ. Am Tisch sitzen auch die Nachbarn. Der Aktivist Ulaş kommt aus İzmir, seine Partnerin Işık wuchs im Aargau auf. So wollen es die Zufälle im Leben. Wir sprechen über ihren Aktivismus und das Leben auf dem Land. Alle sind sie überzeugt, dass die Sache mit der Goldmine noch nicht gegessen sei. Bald käme einfach eine andere Firma und der Widerstand gehe von vorne los. 

Wir gehen zum Wein über, zeigen ein paar Fotos unserer Recherchereise und Ulaş schöpft Hoffnung. Der Kampf sei schwierig, gibt er zu. Und ohne Widerstand sei unsere Umwelt verwundbar. Doch all die engagierten Gesichter auf den Bildern zeigten doch auch, wie viele Menschen für eine bessere Welt kämpfen. Grund genug für Zuversicht. 

Florian Wüstholz ist freier Journalist, Martin Bichsel freischaffender Fotograf. Beide teilen die Leidenschaft fürs Velofahren. 

Weitere Infos zum Projekt unter www.gruenespur.ch 

|
Diese Seite wird nur mit JavaScript korrekt dargestellt. Bitte schalten Sie JavaScript in Ihrem Browser ein!
.hausformat | Webdesign, TYPO3, 3D Animation, Video, Game, Print