Fast unbeteiligt sitzt sie an der Wand. Wie zum Relief erstarrt, wie eine Granitskulptur. Nur wenn die Reisebusse an der Ecke Avenue Hassan II/Zerktouni halten, streckt sie ihre dünne Hand nach vorn. Die Frau trägt einen grossen, aus Palmenblättern geflochtenen Hut. Ihr Kleid muss eine schöne, farbige Djellaba gewesen sein. Nun ist der bodenlange Kapuzenmantel ein staubiger, zerschlissener Überwurf. Für etliche Touristen ist die Frau das erste Fotosujet des Tages.
Ich sitze vor der betörend schönen Medina (Altstadt) von Chefchaouen und beobachte diese Szenen. Chaouen, wie die Bewohner sagen, zählt 45 000 Menschen und liegt im wild zerklüfteten Rifgebirge im Norden von Marokko. Als Gründungsjahr gilt 1471. Erst wohnten hier indigene Berber, später kamen Muslime und Juden aus Andalusien. Bis weit ins 19. Jahrhundert galt die Stadt als heilig und verboten. Wenn ein Fremder sie betrat, wurde er mit dem Tod bedroht. In den 1960er-Jahren wagten sich erste Hippies her. Sie suchten wahres Leben und fanden Drogen, mit denen sie den Tag verträumten. Es folgten Rucksackreisende, ehe die globale Tourismusindustrie den Ort für sich einforderte.