Im Rausch der Sinne

Abendblick auf die Stadt Chefchaouen.

Wer Marokkos Nordküste zwischen Mittelmeer und Rif bereist, sollte offen für die Menschen, die Natur und die wechselvolle Geschichte sein. Aber auch sensibel für die kulturellen und sozialen Unterschiede. Und keine Berührungsängste vor Polizeikontrollen haben.

Fast unbeteiligt sitzt sie an der Wand. Wie zum Relief erstarrt, wie eine Granitskulptur. Nur wenn die Reisebusse an der Ecke Avenue Hassan II/Zerktouni halten, streckt sie ihre dünne Hand nach vorn. Die Frau trägt einen grossen, aus Palmenblättern geflochtenen Hut. Ihr Kleid muss eine schöne, farbige Djellaba gewesen sein. Nun ist der bodenlange Kapuzenmantel ein staubiger, zerschlissener Überwurf. Für etliche Touristen ist die Frau das erste Fotosujet des Tages.

Ich sitze vor der betörend schönen Medina (Altstadt) von Chefchaouen und beobachte diese Szenen. Chaouen, wie die Bewohner sagen, zählt 45 000 Menschen und liegt im wild zerklüfteten Rifgebirge im Norden von Marokko. Als Gründungsjahr gilt 1471. Erst wohnten hier indigene Berber, später kamen Muslime und Juden aus Andalusien. Bis weit ins 19. Jahrhundert galt die Stadt als heilig und verboten. Wenn ein Fremder sie betrat, wurde er mit dem Tod bedroht. In den 1960er-Jahren wagten sich erste Hippies her. Sie suchten wahres Leben und fanden Drogen, mit denen sie den Tag verträumten. Es folgten Rucksackreisende, ehe die globale Tourismusindustrie den Ort für sich einforderte.

Faszinierend und schwierig zugleich

Von ferne sieht die Medina aus, als klebe sie am mächtigen Felsen oberhalb. Ein kräftiges Blau hüllt jede Nische ein. Es soll den bösen Blick abhalten und die Menschen vor Unheil schützen. Findige Touristiker haben die intensive Farbe und wundersam arabische Konfession zum flüchtigen Klischee verdichtet: «Die blaue Perle von Marokko». Chefchaouen vereint nun vieles, was Reisen in andere Kulturen faszinierend und zugleich schwierig macht: die märchenhaft fremde Welt, die reizvolle Architektur, die grandiose Natur, aber auch den sozialen Kontrast zwischen Besuchern und Bevölkerung.

Die schmalen Altstadtgassen verlaufen rätselhaft und derart raffiniert, dass mich eine der Passagen ins Abseits lockt. Sie endet vor einer marineblauen Tür. Dort sitzt ein dünner Mann und sagt: «Hallo! Ich heisse Mohammed.» Er stopft gemächlich seine Sebsi. Die traditionelle Pfeife hat einen langen, dünnen Holm und einen kleinen Pfeifenkopf aus Ton. Ein sinnlich-süsser Dunst hüllt uns ein. «Rauchst du auch? Ich habe guten Kif.» «Nein! Aber wir können gerne über die Cannabisproduktion sprechen.» «Für 50 fahre ich dich zu einem Haschischbauern», sagt Mohammed. Das Angebot steht in keinem Reiseführer.

In diese dunkle Ecke verirren sich kaum Touristen. Eine Häuserzeile weiter verändert sich die Szenerie. Reisende aus aller Welt wälzen sich durch die Gassen, die überfüttert mit bunten und erregend duftenden Angeboten sind. Sie fotografieren jeden Winkel und alle Menschen, treten auch ungefragt in private Hauseingänge. Von Overtourism zu sprechen, ist hier nicht falsch, aber unvollständig. Während westliche Destinationen, die über zu viele Touristen klagen, meist hochentwickelte, stabile Regionen sind, scheint hier alles viel prekärer und sozial fragil. Mehrere Welten verlaufen parallel.

Wechselvolle Geschichte

Vor zehn Tagen bin ich aufgebrochen, um der Nordküste von Marokko entlang zu radeln. Als ich in Melilla, der spanischen Enklave, die Grenze nach Marokko passierte, betrat ich eine andere Welt. Lebendig, chaotisch, aber auch beklemmend. Ein massiver Zaun trennt Europa von Migranten aus Subsahara-Afrika. Er ist zum traurigen Symbol für Europas Abschottungspolitik geworden. An dieser Grenze verrichten Frauen für «poco dinero» eine harte Arbeit. Sie buckeln täglich duzende, bis 50 Kilogramm schwere Ballen mit Billigware über die Grenze. «No fotos», sagen sie zu mir.

Die Strasse führt wellenartig dem Meer entlang. Oft zweigt sie ins Landesinnere ab, um sich kurvenreich bis auf 700 Meter hinaufzuwinden. Das öffnet Blicke in grandios zerklüftete Berglandschaften, tiefe Schluchten, Steineichenwälder, verbrannte Erde, verlassene Steinhäuser, steil abfallende Felsküsten und aufs endlos weite Meer. Von El Jebha, dem freundlichen Fischerdorf, wollte ich mich kaum mehr trennen. In der Altstadt von Tétouan war die Performance des Teppichhändlers derart elegant, dass ich ohne Not sein teures Duftöl kaufte.

Das Rifgebirge, das fast 350 Kilometer parallel zur Küste des Mittelmeers verläuft, war stets präsent. Auch die wechselvolle Geschichte der Bewohner. 1920 rebellierten berberische Rifkabylen gegen die koloniale Macht aus Spanien. Im Jahr darauf erklärten sie euphorisch die autonome Rif-Republik. Die Spanier rächten sich teuflisch. Sie versprühten Senfgas aus der Luft, einen zerstörerischen Kampfstoff aus den Chemielabors. Als Marokko 1956 unabhängig wurde, nahmen die arabischen Eliten den indigenen Völkern ganze Ländereien weg – sowie die Unabhängigkeit.

Eine riesige Hanfplantage

Viele Menschen wanderten in die Städte oder nach Westeuropa ab. Die Region zählt heute zu den ärmsten in Marokko. Das anarchische Gedankengut und die Sehnsucht nach unbedingter Freiheit überdauerten. In Al Hoceïma, 130 Kilometer westlich von Melilla, gab es 2011 und 2016 gewaltsame Erhebungen gegen die Willkür der königlichen Polizei. Seither wird der Ort bewacht. Uniformierte Burschen kontrollieren mich schon 50 Kilometer ausserhalb. Am Stadtrand steht die Polizei mit Kampfgeräten. Auf der Strasse liegen Nagelsperren.

In der Medina von Chaouen hat Mohammed die Pfeife leer geraucht. Er stopft sie wieder mit Haschisch voll. Wir sprechen über die Cannabisproduktion. «Das Rifgebirge ist eine riesige Hanfplantage. Die grösste für den Europamarkt», sagt er. «Den fetten Gewinn streichen andere ein. Und die Regierung verdient sicher mit. Aber für viele Bauern ist der Anbau von Cannabis die einzige Chance, um zu überleben.» Die Produktion wäre illegal. Bei einem 15-Milliarden-Markt schaut das Königreich nicht genau hin. Die Gendarmerie royale kontrolliert manchmal, um den Bauern Schmiergelder abzupressen.

Mohammed wiederholt sein Angebot: «Wir können den Haschisch-Bauern sofort besuchen.» Bevor ich ins Auto steige, will ich ihm 50 Dirham zahlen, rund 5 Schweizer Franken. Er schaut mich verwundert an. «Ich meinte natürlich 50 Euro!» Beim Feilschen um den Preis ist auch nicht klar, ob ich dem Bauern nochmals 50 Euro zahlen müsste. Die Ausfahrt scheitert. Ich schlendere in die neue Stadt und trinke im Café al-Zahra einen Minzentee, mit frischen Kräutern und reichlich Zucker aufgebrüht. Die einheimischen Männer schauen Fussball am TV-Apparat. Die Frau mit dem grossen Hut kauert noch immer an der Wand. Sie löffelt eine Bohnensuppe. Die Reisebusse sind abgefahren. Ich zahle und wünsche «bonne nuit». Der Kellner ruft lachend auf Arabisch: «Shukran lak wadaeaan.» «Danke und auf Wiedersehen.»

Walter Aeschimann lebt und arbeitet als freier Historiker und Publizist in Zürich und bereist auf dem Velo die Welt. 

Auf dem Landweg von Zürich nach Marokko und zurück

Hinfahrt: Zug: Zürich HB–Genf. Fahrrad: Genf–Nîmes. Zug: Nîmes–Málaga (Madrid umsteigen). Fahre: Málaga–Melilla (Enklave Spaniens).Rückfahrt: Fahre: Tanger–Tarifa (Andalusien). Fahrrad: Tarifa–Cordoba. Zug: Cordoba–Figueres (Barcelona umsteigen). Fahrrad: Figueres–Perpignan. Zug: Perpignan–Zurich HB (Avignon und Genf umsteigen).Unterwegs: Die ganze Reise dauerte fünf Wochen. Die Hin- und Rückreise je zwei Tage. Die Stationen in Marokko: Melilla, Nador, Al Hoceïma, El Jebha, Oued Laou, Tetouan, Chefchaouen, Tanger. An diesen Orten gibt es Unterkünfte. Dazwischen ist die Region touristisch kaum erschlossen.

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