Kleinstadt, Weinmetropole

Morgens durch Rebberge und am Nachmittag durch einen einzigartigen Wald streifen, anschliessend vielleicht ein Bad im Stadtsee, sicher aber ein Umtrunk im Château de Villa: In einen Tagesausflug nach Sierre/Siders lässt sich viel Schönes hineinpacken.

Nur das Beste war dem Ehepaar Mercier de Molin gut genug. Den Stein für sein Schloss liess Monsieur aus Paris, aus Norditalien, aus dem Aïn herschaffen. Die Eisenbahn, die Siders zum grossen Aufschwung verhalf, war 1906 ja längst gebaut. Die horrende Bausumme von 800 000 Franken erklärt sich aber auch durch die dazugehörige Parklandschaft – inklusive Gemüse- und Obstgarten, Stallungen und Quellfassungen –, für deren Gestaltung die pflanzenvernarrte Madame Mercier einen Top-Experten einspannte. Umgürtet ist der über der Stadt thronende Bau von angeblich erstklassigen Rebbergen, zu ihm hinauf führt in eleganten Kehren eine höchst repräsentative Steintreppe. 
Das Allerbeste aber war, dass Merciers ihrem umfassenden Mäzenatentum die Krone aufsetzten, indem sie das riesige Anwesen unter Auflagen, so der Nutzung zu Kulturzwecken, der Stadt vermachten. Heute profitiert die Allgemeinheit vom damaligen privaten Luxus, lustwandelt im Park und geniesst den weiten Ausblick übers Rhonetal und hinauf ins Val d’Anniviers. Ein guter Ort, um darüber zu sinnieren, woher Reichtum kommt und womit er idealerweise einhergeht.
Sierre besitzt keine grossartige Altstadt wie Sion. Und seine Hügel – das Werk eines Bergsturzes vor 9000 Jahren –, auf denen und um die herum es sich ausgebreitet hat, sind keine Wahrzeichen wie Tourbillon und Valère. Dennoch braucht sich die Kleinstadt keineswegs vor ihrer grossen Schwester zu verstecken. Dem Tessin macht sie gar das Etikett «Sonnenstube der Schweiz» streitig. Nebst den baulichen Sehenswürdigkeiten sind ihr grösster Trumpf die Naherholungsgebiete, angefangen beim Petit Bois gleich hinter dem Bahnhof mit seinen 300-jährigen Eichen.

Ein Wanderweg für Wissbegierige

Vor dem Zugfenster taucht die formschöne Landschaft zwischen Sierre und Salgesch zwischen den Tunneln zwei-, dreimal kurz auf. Mitten hindurch führt der sechs Kilometer lange Rebenweg vom Zumofenhaus, dem Weinmuseum in Salgesch, zum Siderser Weinmuseum im Château de Villa. In Salquenen, wie welsche Zungen es nennen, ist der Rebensaft omnipräsent. Hüben wie drüben laden Weingüter zur Degustation ein.
Es ist Anfang April, noch haben die Stöcke keine Knospen getrieben, doch in den Hecken und zwischen den Rebzeilen blüht es schon kräftig. Für das erste Rebenweg-Teilstück stehen zwei Varianten zur Auswahl: «pyramides» und die etwas längere, «bisse des Marais», die einen kurzen ruppigen An- und Abstieg bereithält. Die Pyramiden, skurrile Felsgebilde, die dank Kalkablagerungen der Erosion getrotzt haben, bekommt man so oder so zu Gesicht. Bissen gibt es weit eindrücklichere als diese hier, aber die mediterran anmutende Vegetation rundherum ist den Umweg auf alle Fälle wert. 
Wir überqueren die Raspille, den Grenzbach zwischen deutschem und französischem Sprachraum. Dass er diese Funktion nicht immer hatte, dass das Wallis, ursprünglich gänzlich frankophon, im Mittelalter bis nach Sitten hinunter alemannisiert wurde, verrät uns eine der 80 Infotafeln am Wegrand. Die kurzen naturkundlichen, kulturhistorischen, agrarökologischen, sozial oder erdgeschichtlichen Exkurse sind richtig gut gemacht – und in den anderthalb Stunden Wanderzeit nicht inbegriffen.

Eine kinderfreundliche Naturoase

Nach der Raspille-Schlucht geht es sanft aufwärts nach Veyras. Rebberg an Rebberg, gestützt und parzelliert durch kilometerlange Mauern, zumeist ökologisch wertvolle Trockensteinmauern. Beim Anblick des Weinguts auf dem Hügel unterhalb von Veyras wähnen wir uns fast schon in der Toskana. Nicht auszuschliessen, dass es Rainer-Maria Rilke ähnlich empfand: Kurz darauf kommen wir am Schlösschen Muzot – natürlich mit Rebberg – vorbei, in dem des Dichterfürsten Spätwerk entstand. Bei der Franziskuskapelle übersehen wir fürs Erste den Wegweiser, der von der Strasse weg in die hübschen Dorfgassen von Muraz mit ihren historischen Speichern und Stadeln lotst. 
Vom Rebenweg abzweigend, steigen wir via Schloss Mercier ins Stadtzentrum ab, gönnen uns eine Kleinigkeit auf dem Platz vor dem eindrücklichen barocken Rathaus, das früher ein Hotel war. Das Postauto Richtung Vissoie bringt uns dann zur Haltestelle Pfynwald, wo wir zu einem gut zweistündigen Rundgang starten – den oberen Teil des Naturparks Richtung Leuk sparen wir uns für eine Velotour auf. Wie viel haben wir über diesen Biodiversitäts-Hotspot von europäischem Rang nicht schon gelesen, ohne ihn jemals aufzusuchen. Er enttäuscht die hohen Erwartungen nicht. Und er macht ganz offensichtlich auch Kinder glücklich, ob beim Versteckenspielen entlang der verschlungenen Pfade, in der Buvette Milljeren oder beim Füssebaden in einem der geheimnisvoll daliegenden Teiche, die man zum Teil auch umrunden kann.

Humagne blanche oder Humagne blanc?

 Zurück in der Stadt, stecken wir nicht einmal die Zehenspitzen hinein ins klare Wasser des Lac de Girondes, in dessen Westbucht die städtische Badeanstalt noch tief im Winterschlaf liegt. Hinter dem nächsten kleinen Hügel leuchten, nicht weniger zauberhaft und keine zehn Minuten zu Fuss vomBahnhof, die «Petits lacs» in der Abendsonne. Vervollständigt werden diese städtischen Idyllen, wie könnte es anders sein, durch umliegende Rebberge.
Zum Abschluss nochmals auf die andere Seite der Bahnlinie, in eines der Quartiere, wo die Moderne des Stadtzentrums nahtlos in ländliche Architektur übergeht: Im Château de Villa herrscht im Restaurant drinnen und auf der Terrasse reger Betrieb. 750 Weine aus gut 50 Rebsorten und von über 100 Winzerinnen und Winzern hat die Vinothek im Angebot. Zum Apéro wählen wir einen Humagne blanche und staunen nicht schlecht, als auf der Flaschenetikette «Humagne blanc» prangt. Der erste genderfluide Wein? Sie oder er schmeckt jedenfalls köstlich. Genau wie es sein soll nach einem solch prächtigen Ostertag.

Praktische Informationen

Sierre wird von Lausanne und Visp her im Halbstundentakt bedient, Salgesch am Wochenende nur stündlich.

www.sierretourisme.ch

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