Treppauf in den siebten Himmel

Erster Rastplatz im Aufstieg nach Nadro, Blick aufs Zentrum von Biasca, dem Dorf im Schnittpunkt von Bleniotal (rechts) und Leventina.

Es könnte diesen Sommer eng werden im Südkanton, heisst es. Unsere Wanderung führt in eine Ecke des Tessins, wo – vielleicht abgesehen von den Grotti – garantiert kein Andrang zu befürchten ist.

Wer links sitzt, wenn der Intercity bei Pollegio aus dem Gotthard-Basistunnel braust, wird kurz darauf vom Pizzo Magn begrüsst. Zwei Kilometer hoch aus der Ebene aufragend, wacht er über Bleniotal, Leventina und Riviera, die Tre Valli. Entzückte Blicke dürfte auch der Wasserfall ernten, der aus dem Spalt zwischen zwei Felsbastionen der Monti di Biasca herabstürzt, hundert Meter oder mehr. Gegen Norden weisen die Monti eine auffällige Abdachung auf. Dort oben liegt Canvasgia, dort wollen wir hin.
Vorerst geht’s ohne Halt bis Bellinzona, wo viele umsteigen: die meisten Richtung Locarno und die wenigsten, um retour nach Biasca zu fahren. Da setzen wir uns, auf halbem Weg zum Zentrum, auf die Terrasse des «Gottardo», Stil typische Dorfkneipe, und mustern die linke Felsbastion, die nun direkt vor uns steht. Sie hat etwas von einer Pyramide, aufgebaut auf mehreren fast horizontalen, von Bäumen und Büschen bestandenen Terrassen. Eine Pyramide mit Grüngürteln sozusagen. Ganz zuoberst ist der Mast einer Transportseilbahn sichtbar. Dahinter liegt Nadro, unser Ziel für die Mittagsrast.
Das verbürgerlichte einstige Arbeiterdorf Biasca – unweit des Stahlwerks von Bodio – zählt nicht zu den Perlen des Tessins. Doch immerhin sind da Preziosen wie die neoromanische Pfarrkirche und die romanische Stiftskirche Santi Pietro e Paolo, ein Baudenkmal von nationalem Rang, gleich oberhalb. Bei dieser setzen wir über den Bach und stellen überrascht fest, dass der früher versteckte Einstieg in unsern Aufstieg nun mit einem weissen Wegweiser («Nadro») markiert ist. Ein gutes Vorzeichen.

Ziemlich hart am Abgrund

In weiten Kehren steigen wir von einer Geländestufe zur andern und wechseln dann über einen Steg kurz auf die Südseite des fotogenen Bachs. Nach der zweiten Brücke folgt die erste kunstvoll errichtete Steintreppe. Und wie man – schon etwas ausgesetzt – in die eigentliche Schlucht eintritt, stellt sich fast unweigerlich die Frage: Da hinauf geht wirklich ein Weg?
In seinem exquisiten Tessin-Bergwanderbuch zitiert Daniel Anker den Pionier Gotthard End, der vor fast exakt 100 Jahren im SAC-Jahrbuch über seine hiesigen Streifzüge berichtete: «Wem es nicht gegeben ist, auf rauhem Pfade in ununterbrochener Steigung bergan zu klimmen, und wem es unbehaglich wird, wenn sein Blick zu Füssen plötzlich auf einige hundert Meter tieferliegende Wiesen oder Wälder trifft, der gehört nicht auf den Monte di Biasca.» Ends Befund ist natürlich zu relativieren, doch gerade mit dem ersten Abschnitt in der Schluchtwand ist tatsächlich nicht zu spassen. Unangenehm niedrig, kurz, unregelmässig sind die Steintritte. Wer dem Abgrund ins Auge schauen mag, suche zunächst guten Stand. 
Zwischen sechs- und siebenhundert Treppenstufen dürften es sein bis zum ersten Maiensäss. Und wo keine solchen sind, verliert der Weg kaum an Steilheit. Das Maiensäss trägt den poetischen Namen Bedra del Vent, Birke des Winds. Luftig ist diese Kanzel – und tatsächlich rauscht der Nordföhn durchs Frühlingslaub. Über kühne Stützmauer-Konstruktionen hinweg gelangen wir in ein Waldstück und durch dieses hinauf nach Nadro. 1000 fast lotrechte Meter unter uns fährt winzig klein ein Zug in Biasca ein. Gegenüber präsentiert sich majestätisch die Bergwelt, hinter der das Verzascatal liegt.

Der Ri della Froda kann’s nicht lassen

Es ist verbürgt, dass von hier am 1. November (!) 2014 folgende SMS wegging: «Sitze in Nadro, 1200 m, senkrecht ob Biasca, halbblutt bei Apfel+Rüebli. Eigentlich im Paradies, nur ohne Eva.» Paradiesisch gelegen sind auch die oberen Hütten von Nadro am Rand einer ausladenden, grasigen Kuppe. Unsere Bastion hat sozusagen ein Flachdach. Im Vergleich zum bisherigen ist der Rest des Aufstiegs durch einen sonnenverwöhnten Hang ein Klacks. Dreingabe: Der Ri della Froda, dessen Wasser wir aus dem Zug herabfallen sahen, tut es auch hier und formt netterweise einen – per Trampelpfad erschlossenen – Badeplatz. 

In Piansgera angelangt, steigt man entweder bis zum bequemen Alpweg hoch, der von Compiett herunterkommt, oder folgt den Hang entlang dem Pfad direkt Richtung Canvasgia. Ab hier ist es dann immer noch eine Bergwanderung, aber eine sanfte, frei von Absturzgefahr. Was auch heisst: Diese zauberhafte, gepflegte Alplandschaft ist auch jenen zugänglich, die alpinem Nervenkitzel abhold sind. Warum in aller Welt also haben die Älpler von dazumal, statt ihr Vieh einfach von Norden her hinaufzutreiben, unter unendlichen Mühen den Weg über Bedra del Vent geschaffen? Die Erklärung dürfte sein, dass das Leben der Tessiner Landbevölkerung bis in die Zeit von Gotthard Ends Besuchen hinein ein dauernder Existenzkampf war, in dem auch der hinterste und letzte nutzbare Fleck Grasland oder Waldboden zählte.

Die alpwirtschaftlichen Zwecke der Häuschen auf Canvasgia sind passé, diese dienen längst der Erholung von den Zumutungen der heutigen Zivilisation. Ein Gasthaus, wo Wandernde Station machen könnten, fehlt leider. Die nächste Hütte mit Nachtlager steht 800 Höhenmeter weiter oben im Valle Santa Petronilla …

 

Direkt ins Grotto oder via Dorfbadi?

Den Blick sorglos schweifen lassend – über Malvaglia, das Nara-Gebiet, das Rheinwaldhorn –, kurven wir talwärts nach Fracion, gewissermassen von Etage zu Etage, von Brunnen zu Brunnen und abermals über viele, viele Treppenstufen. Wären die schönen Grotti di Biasca offen, nähmen wir nun wohl das Fahrsträsschen, um weiter unten – durchs Gebiet des verheerenden Bergsturzes von 1513 hindurch – direkt auf sie zuzusteuern. Oben durch geht’s zurück zu unserm Ausgangspunkt, von wo sich zur Lockerung der Muskulatur ein Spaziergang anbietet: auf dem Kreuzweg von S. Pietro e Paolo durch Kastanienhaine zur Steinbogenbrücke über den Ri della Froda. Das Naturbecken gleich unterhalb haben die Biaschesi mit ein wenig Stau-Mauerwerk zur Dorfbadi aufgemöbelt – magnifico!

Urs Geiser ist Regioseiten-Redaktor und wird im Juli in die Monti di Biasca zurückkehren, um Zusatzstoff für eine Fortsetzungsgeschichte zu sammeln.
 

Praktische Informationen

Stündliche Verbindung nach Biasca von Norden her sowohl per IC/EC via Bellinzona als auch mit dem Treno Gottardo der SOB.
Wanderzeit: 5 ½ Std., gut 1100 Meter auf- und abwärts. 
Landeskarte 1:25 000 1273 Biasca, 1293 Osogna; Wanderkarte 1:40 000 Bellinzona/San Bernardino, Kümmerly+Frey.
Literaturtipp: Daniel Anker/Thomas Bachmann: Gipfelziele im Tessin, Rotpunktverlag.
 

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