Wer links sitzt, wenn der Intercity bei Pollegio aus dem Gotthard-Basistunnel braust, wird kurz darauf vom Pizzo Magn begrüsst. Zwei Kilometer hoch aus der Ebene aufragend, wacht er über Bleniotal, Leventina und Riviera, die Tre Valli. Entzückte Blicke dürfte auch der Wasserfall ernten, der aus dem Spalt zwischen zwei Felsbastionen der Monti di Biasca herabstürzt, hundert Meter oder mehr. Gegen Norden weisen die Monti eine auffällige Abdachung auf. Dort oben liegt Canvasgia, dort wollen wir hin.
Vorerst geht’s ohne Halt bis Bellinzona, wo viele umsteigen: die meisten Richtung Locarno und die wenigsten, um retour nach Biasca zu fahren. Da setzen wir uns, auf halbem Weg zum Zentrum, auf die Terrasse des «Gottardo», Stil typische Dorfkneipe, und mustern die linke Felsbastion, die nun direkt vor uns steht. Sie hat etwas von einer Pyramide, aufgebaut auf mehreren fast horizontalen, von Bäumen und Büschen bestandenen Terrassen. Eine Pyramide mit Grüngürteln sozusagen. Ganz zuoberst ist der Mast einer Transportseilbahn sichtbar. Dahinter liegt Nadro, unser Ziel für die Mittagsrast.
Das verbürgerlichte einstige Arbeiterdorf Biasca – unweit des Stahlwerks von Bodio – zählt nicht zu den Perlen des Tessins. Doch immerhin sind da Preziosen wie die neoromanische Pfarrkirche und die romanische Stiftskirche Santi Pietro e Paolo, ein Baudenkmal von nationalem Rang, gleich oberhalb. Bei dieser setzen wir über den Bach und stellen überrascht fest, dass der früher versteckte Einstieg in unsern Aufstieg nun mit einem weissen Wegweiser («Nadro») markiert ist. Ein gutes Vorzeichen.
Ziemlich hart am Abgrund
In weiten Kehren steigen wir von einer Geländestufe zur andern und wechseln dann über einen Steg kurz auf die Südseite des fotogenen Bachs. Nach der zweiten Brücke folgt die erste kunstvoll errichtete Steintreppe. Und wie man – schon etwas ausgesetzt – in die eigentliche Schlucht eintritt, stellt sich fast unweigerlich die Frage: Da hinauf geht wirklich ein Weg?
In seinem exquisiten Tessin-Bergwanderbuch zitiert Daniel Anker den Pionier Gotthard End, der vor fast exakt 100 Jahren im SAC-Jahrbuch über seine hiesigen Streifzüge berichtete: «Wem es nicht gegeben ist, auf rauhem Pfade in ununterbrochener Steigung bergan zu klimmen, und wem es unbehaglich wird, wenn sein Blick zu Füssen plötzlich auf einige hundert Meter tieferliegende Wiesen oder Wälder trifft, der gehört nicht auf den Monte di Biasca.» Ends Befund ist natürlich zu relativieren, doch gerade mit dem ersten Abschnitt in der Schluchtwand ist tatsächlich nicht zu spassen. Unangenehm niedrig, kurz, unregelmässig sind die Steintritte. Wer dem Abgrund ins Auge schauen mag, suche zunächst guten Stand.
Zwischen sechs- und siebenhundert Treppenstufen dürften es sein bis zum ersten Maiensäss. Und wo keine solchen sind, verliert der Weg kaum an Steilheit. Das Maiensäss trägt den poetischen Namen Bedra del Vent, Birke des Winds. Luftig ist diese Kanzel – und tatsächlich rauscht der Nordföhn durchs Frühlingslaub. Über kühne Stützmauer-Konstruktionen hinweg gelangen wir in ein Waldstück und durch dieses hinauf nach Nadro. 1000 fast lotrechte Meter unter uns fährt winzig klein ein Zug in Biasca ein. Gegenüber präsentiert sich majestätisch die Bergwelt, hinter der das Verzascatal liegt.