Unterwegs mit Bertold Brecht

Wenige Kilometer westlich der Twannbachschlucht – ein Berner Schulreise-Klassiker – liegt versteckt die Combe du Pilouvi. Seit wir sie kennen, ist sie für uns die Nummer eins am Bielersee.

Die Burgergemeinde La Neuveville weiss ihren Besitz ins beste Licht zu rücken. Nicht weniger als vier Waldtypen umfasse ihr kleines Waldreservat «Pilouvi – Côte de Chavannes», erläutert sie auf einer ihrer Infotafeln und meint keck: «Es ist die Riviera des Berner Jura. Fehlt bloss das Meer.» Sie bezieht sich dabei auf die «Garide», den ersten Typus, sprachlich angelehnt an die extrem karge «Garrigue», und auf die mediterran anmutenden Eichenhaine. Weiter oben in der Schlucht spielt dann die Buche die erste Geige.
Ob blühender Obstbaum – hier im Moment vor allem die Kornelkirsche – oder eine spezielle Waldung: In Wandergeschichten spielen diese Sinnbilder unserer Lebensgrundlage immer wieder tragende Rollen. Nun schreiben wir einen Tag Anfang März 2022, und auch der schönste Baum vermag uns nicht wirklich aufzuheitern. Ein Tourentipp wie üblich? Unbeirrt eine Naturoase besingen, in die nur eingegriffen wird, wo dies der Biodiversität förderlich ist? Unmöglich oder zumindest nicht ohne Bertolt Brecht zu zitieren:

 
«Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein
Verbrechen ist.
Weil es ein Schweigen über so viele
Untaten einschliesst!»


Wir haben seine Svendborger Gedichte in den Rucksack gepackt, um bei einer Rast an der Sonne wieder mal darin zu lesen, angefangen beim berühmten «An die Nachgeborenen». «Und die Natur sah ich ohne Geduld», heisst es darin auch. Was für Zeilen entstehen wohl dieser Tage in der Ukraine, wo Dichtung bekanntlich hoch im Kurs steht?
 

Munterer als wir: der «Tälerbach»

Ein paar Schritte nur sind es vom Bahnhof La Neuveville zum Altstädtchen, das voller welschem Charme steckt. In die kompakten Häuserzeilen mit farbenfrohen Fassaden sind beeindruckende Turmbauten integriert. Kleine Gastwirtschaftsbetriebe laden dazu ein, die Fussgängerzone auch sitzend zu geniessen. Wir steuern wegen der hausgemachten Limonade das Bio-Lokal «Mille Or» an, wofür die ehemalige Durchgangsstrasse zu queren ist, auf der nun Tempo 20 gilt, jedenfalls in der Theorie. Man äuge um die Ecke und verzichte im Zweifelsfall aufs Vortrittsrecht.
Die überaus freundliche Frau, die die Metzgerei gleich unter dem Roten Turm führt und uns ihren Lieblingskäse aus Lignières, unserem Wanderziel, empfiehlt, pflichtet uns bei. Für Kinder sei die Situation gefährlich, da müsste öfter der Radar Dienst tun, um die Gewohnheitstäter zu bremsen: «Zwei oder drei Bussen am gleichen Tag, das würde wirken.»
Durch eine Tempo-30-Zone gelangen wir in einen kleinen Talkessel, durch den der Ruz de Vau oder Ruisseau de Vaux kanalisiert seinem Ziel zustrebt. Auf den ebenen Parzellen und an den umgebenden sanften Hängen wächst unter anderem Pinot gris. Man glaubt das besondere Mikroklima förmlich zu spüren. In Wassernähe ist es noch sehr kühl; das grossflächige Felsband, das den Einstieg in die Combe du Pilouvi markiert, wird viel Sonnenenergie speichern und wieder abstrahlen.
Schäumend stürzt sich der Bergbach über diese letzte Steilstufe hinunter, besonders spektakulär natürlich zur Zeit der Schneeschmelze. Erklimmen lässt sich dieser Aufschwung nahe am Bach oder durch den Sonnenhang. Beim ersten grossen Wasserfall finden die Wege zusammen. Wobei es eigentlich mehr eine Wasserrutsche ist, über die der Ruz da in ein Becken schiesst.
 

Ein Pavillon mit See- und Alpensicht

 

Oberhalb davon wartet leicht abseits der Route ein verträumter Rastplatz; ein Holzschild mit der Inschrift «Lac des Fées» leitet dorthin. Wir erinnern uns, wie wir im Lockdown zum ersten Mal dasassen. Ja, mühsam war das Ganze – und für viele noch viel mehr als das. Aber was gäben wir jetzt darum, das Rad der Zeit so weit zurückdrehen zu können, um dann in einer besseren Gegenwart aufzuwachen. 

Nur kurz verlässt der Pfad – ein sehr gut ausgebauter Bergwanderweg – den Bachlauf, bald können wir dem Jurawasser wieder dabei zuschauen, wie es von Stufe zu Stufe springt, an grossen Felsbrocken nagt, sich durch Engpässe zwängt, über glatt geschliffene Platten strömt. Zu guter Letzt durchbricht der Ruz einen hohen Felsriegel. Der hängt so stark über, dass, wer ein paar Spritzer nicht scheut, das Spektakel auch von hinten bewundern kann. Begehbar macht diesen eigentlichen Schluchteingang eine Holztreppen-Konstruktion.

Oben geht es ostwärts in Richtung des Aussichtspunkts Pavillon. Dies wird unser Rückweg sein, Prädikat «sehr empfehlenswert ». Vorerst aber nehmen wir die letzten 100 von insgesamt rund 400 Höhenmetern in Angriff. Auf dem bequemen Waldweg entlang dem hier zahmen Bach merkt man sie fast nicht. Hinter dem Dorf am Rand des Plateau de Diesse grüsst majestätisch der Chasseral. Daneben kontrastieren in Lignières ein paar schöne Ecken im Zentrum mit architektonischen Nullnummern neueren Datums ausserhalb. Das Pedibus-Plakat am Rathaus und Tempo 30 zeugen von zivilisatorischem Fortschritt im Kleinen. Immerhin. Überdies sind da gleich zwei Restaurants, eines davon gar ein Feinschmeckerlokal.

 

 

Eine uralte, brandaktuelle Geschichte

 

Zurück am See – La Neuveville brilliert jenseits von Bahnlinie und Autobahn mit einem weitläufigen Quai –, entdecken wir, dass das gut 700-jährige Städtchen auf Infotafeln das Andenken an ein plötzlich wieder brandaktuelles Geschehen wachhält. Allein zwischen 1685 und 1689 dürften 7000 hugenottische und waldensische Glaubensflüchtlinge auf ihrem Zug gegen Norden in Neuenstadt, damals ein 800-Seelen-Dorf, beherbergt worden sein. Einige blieben auch länger oder wurden gar sesshaft.

Was dürfen wir hoffen? Was wollen, sollen wir da vernünftigerweise überhaupt hoffen, hatten wir uns wandernd gefragt – und bei Brecht gelesen: «Ich wäre gerne auch weise.» Dass die Schweiz ihrer Flüchtlingsgeschichte ein löbliches Kapitel anfügen will, scheint ausgemacht. Die grosse, vielleicht verwegene Hoffnung verbinden wir mit einem Versprechen: die Ukraine möglichst auch reisejournalistisch zu unterstützen, sobald sie auch nur einigermassen wieder auf dem Weg ist, den sie gehen wollte. 

Als Redaktor der Regioseiten im VCS-Magazin betrachtet Urs Geiser die Welt selbst beim Wandern auch durch seine (verkehrs-)politische Brille.

 

Praktische Informationen

 

Anreise per Regionalzug ab Neuenburg oder Biel. Lignières verfügt über Postauto-Anschluss (21.132, La Neuveville–Nods). Rund 1½ Std. Auf- und Abstieg

www.laneuveville.ch

www.via-huguenots.ch

 

 

Diese Seite wird nur mit JavaScript korrekt dargestellt. Bitte schalten Sie JavaScript in Ihrem Browser ein!
.hausformat | Webdesign, TYPO3, 3D Animation, Video, Game, Print