Wo die Natur sich ihren Weg bahnt

Mal tiefblau, hier milchig: das Wasser in der Jaunbachschlucht.

Wer im Sommer der Hitze entfliehen will, findet in der Jaunbachschlucht bestimmt Abkühlung. Auf dieser abwechslungsreichen Wanderung über Stege und Treppen sowie durch stockdunkle Tunnels taucht man in eine märchenhafte Welt ein.

Da liegt sie endlich vor uns: die Jaunbachschlucht oder Gorges de la Jogne. Wir stehen beim Rastplatz oberhalb der Staumauer des Lac de Montsalvens. Eben noch haben wir die eindrückliche Mauer bewundert, die den gestauten See abschliesst. Schliesslich hat sie Massstäbe gesetzt, war sie doch die erste Bodenstaumauer Europas mit einer horizontalen und vertikalen Krümmung. Ein Meisterwerk von Ingenieur Heinrich Eduard Gruner, der sie zwischen 1918 und 1921 erbaute. Ganze 52 Meter ist sie hoch und an ihrer Spitze 115 Meter lang. Wir sind beruhigt, dass wir nicht die Eisentreppe nehmen müssen, die sich an der Wand furchterregend hinunterrankt.
Gestartet haben wir unsere Wanderung bei sommerlichen Temperaturen oben in Charmey bei Corbettaz, wo sich auch eine Bushaltestelle befindet. Der Name des Dorfes leitet sich übrigens nicht von Charme ab, sondern bedeutet «verlassenes Berggebiet». Genau hier ist auch der Ursprung des berühmten Greyerzerkäses, den man schon seit 1115 herstellt. So verwundert es wenig, dass unsere Route Richtung Gruyères bereits im 17. und 18. Jahrhundert ein Transportweg war, um die riesigen Käselaibe unter die Leute zu bringen. 
 

Hängebrücken und «Fjorde»

 

Zu Beginn führt der Weg vorbei an Wohn- und Ferienhäusern hinunter an den Lac de Montsalvens nach Presqu’Ile, einer idyllischen Halbinsel. Hier müssen wir die erste Hängebrücke überqueren. Es schaukelt ziemlich. Aber alles halb so schlimm, die Brücke führt schliesslich nicht über eine tiefe

Schlucht, sondern eher über einen fjordähnlichen Arm des Lac de Montsalvens. Danach folgt ein schmaler Weg dem See entlang, meist leicht erhöht. Dennoch ist die Sicht auf den Stausee durch Schilf und Gestrüpp oft verdeckt. Schade, dass er nicht näher am Ufer entlangführt. Immerhin können wir zwischendurch einen Blick aufs Wasser erhaschen, wo sich immer wieder Kreise bilden. Wirklich gesehen haben wir aber keinen der Alet, Äschen, Bachforellen und Elritzen, die hier vorkommen sollen. Auch ihnen wird es zu warm sein. Zum Glück ist der Wanderpfad da und dort mit schattenspendenden Bäumen gesäumt.

Trotzdem ziehen wir zügig aus, um bald in die Schlucht einsteigen zu können. Wir haben Glück, ist der Schluchtweg doch eben erst wieder geöffnet worden, nachdem er mehrere Wochen wegen Unwetter gesperrt war. Wir steigen vorsichtig die noch feuchten Treppenstufen hinab und glauben, in eine andere Welt einzutauchen. Die Geräuschkulisse der Hauptstrasse auf den Jaunpass, die uns zuvor begleitet hat, verschwindet plötzlich. Wir hören nur noch das Rauschen des tosenden Jaunbachs. Die Luft ist feucht und angenehm kühl.

 

 

Bizarre Felsformationen

Nun wird’s etwas abenteuerlich. Es ist ein ständiges Hinauf und Hinab. Treppen wechseln sich mit Wegen. Dort, wo es eng und etwas steiler wird, sind aber Holzgeländer angebracht. Gefährlich wird es nie, aber etwas Trittsicherheit ist nicht schlecht. Anfangs führt der Weg noch hoch über der Schlucht dem Hang entlang, dann rückt er allmählich näher ans Wasser. Beides hat seine Reize. Von oben hat man spektakuläre Ausblicke, unten wird’s geradezu märchenhaft, wenn man entlang der bizarren Felsformationen wandert. Je nach Sonneneinfall wirkt das Wasser mal milchig, mal tiefblau. Die verschlungenen Felsverwerfungen geben uns ein Bild davon, wie lange hier die Natur schon gearbeitet haben muss – und es noch immer tut. Denn die beschädigten Holzgeländer zeigen, dass man hier jederzeit auf Steinschlag gefasst sein muss. Auch kleine Wasserfälle treten aus den Felsformationen heraus.
Weil der Weg von der einen Uferseite zur anderen wechselt, zeigt sich die Schlucht immer wieder aus einer neuen Perspektive. Beim Creux des Tines wird es noch etwas enger und wilder. Man staunt, wie sich der Jaunbach seinen Weg durch die Gletschertöpfe gebahnt hat. Wir überqueren Stege, erklimmen Treppen und – was die Schlucht so speziell macht – durchqueren kleine Felsengalerien und stockdunkle Tunnels. Gut beraten ist, wer eine Taschenlampe dabeihat. So sieht man die Wasserpfützen rechtzeitig und kann ihnen ausweichen.
Und dann erwartet uns noch ein weiteres Highlight: ein Wasserfall über drei Kaskaden. Daneben – als hätte ihn eine Waldfee hingezaubert – präsentiert sich uns ein gemütlicher Rastplatz. Perfekt, denn unsere Mägen haben schon länger geknurrt und eine Pause gewünscht. Also packen wir unsere Verpflegung aus, die natürlich mit einem Greyerzerkäse bestückt ist. Diesen haben wir tags zuvor direkt auf der Alp von Béat Piller auf dem Aussichtsberg Vounetz oberhalb von Charmey gekauft. Wir genehmigen uns noch ein kurzes erfrischendes Fussbad, bevor wir den letzten Abschnitt unserer Wanderung unter die Füsse nehmen. 
 

Kapelle statt Schokolade

Als wir den Wald am Ende der Schlucht verlassen, könnte der Kulturschock nicht grösser sein. Eben noch in einer mystischen Welt, stehen wir wieder mitten in der Zivilisation und müssen leider ein ganzes Stück der Hauptstrasse entlangwandern. Schon fast überlegen wir uns, die Tour abzubrechen und stattdessen in Broc einen Abstecher in die Schokoladenfabrik Maison Cailler zu unternehmen. Doch wir widerstehen der süssen Verlockung und sind letztlich froh darüber. Denn schon bald führt der Weg wieder über Wiesen und Felder mit Blick auf die Ebene von Les Marches, einst ein grosses, von der Saane gespeistes Sumpfgebiet, auf der einen Seite und dem Dent de Broc auf der anderen Seite. Bekannt ist die Gegend aber vor allem wegen der «Chapelle Notre-Dame des Marches», die wir nun ansteuern. Zwar nicht über die schöne Lindenallee, sondern über den Wanderweg. Die Kapelle mit ihrer gotischen Jungfrau ist ein beliebter Wallfahrtsort.
Schon bald haben wir unser Endziel vor Augen: das mittelalterliche Städtchen Gruyères. Es thront nur noch wenige Kilometer vor uns auf dem Hügel. Hier wäre wohl der richtige Moment, um noch einen kleinen orthografischen Beitrag einzuschieben. Das Städtchen, das wir gerade ansteuern, schreibt sich Gruyères. Die gesamte Region nennt sich La Gruyère, also ohne s. Und auch der berühmte, in der Schweiz meistverkaufte Käse, den wir bei unserem Picknick geschmaust haben, heisst Gruyère, also ganz korrekt «Le Gruyère AOP». Darauf legen die Greyerzer sehr viel Wert, schliesslich ist der Käse ein Kulturgut.
Das letzte Wegstück führt entlang der Saane bis zur Holzbrücke Pont qui branle («schwankende Brücke»), die aber ihrem Namen nicht wirklich gerecht wird. Jedenfalls ist es weit weniger wacklig darauf als auf der ersten Brücke unserer Wanderung. Die letzten Höhenmeter nehmen wir im Stechschritt, freuen wir uns doch, das Ziel gleich erreicht zu haben. Mit seinen gepflasterten Gassen, den hübschen Gaststätten und dem prächtigen Schloss ist Gruyères wahrhaft ein bezaubernder Zielort.
 

Silvia Schaub ist freie Journalistin und Autorin. Das Reisefieber packt sie immer wieder – manchmal in ferne Länder, oft aber auch gleich um die Ecke.

 

Praktische Informationen

 

Anreise: Die Jaunbachschlucht kann nur zwischen April und Oktober begangen werden. Vor der Anreise unbedingt beim Tourismus-Büro nachfragen.

Erreichbar ist Charmey mit dem TPF-Bus in einer knappen halben Stunde ab Bulle, die Rückfahrt ab Gruyères per Bahn via Bulle.

Wanderzeit: Von Charmey nach Gruyères 3 Stunden 15 Minuten, Aufstieg: 380 Meter, Abstieg: 520 Meter, Länge: 11 Kilometer; die Wanderung kann auch in umgekehrter Richtung gewählt werden.

Charmey: Thermalbad Les Bains de la Gruyère, www.bainsdelagruyere.ch

Broc: Maison Cailler, www.cailler.ch

Les Marches: Chapelle Notre-Dame des Marches, www.lesmarches.ch

Gruyères: Schloss, HR Giger Bar, Tibet Museum, Schaukäserei

Allgemeine Infos: www.la-gruyere.ch/greyerz, www.viasdufromage.ch

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