
Es lebe die Vielfalt
Bahnhofvelo, Mountainbike oder Tandem: Velo ist nicht gleich Velo. Aber wer Velo fährt, ist Velofahrer* in, ob Pendlerin, Profifahrerin oder Tandem-Copilot. Öffnen wir den Blick für die Vielfalt auf zwei – oder drei – Rädern.
Hansruedi Stalder ist seit elf Jahren blind. Seit er an den Ausfahrten der Inclusio-Tandemgruppe Burgdorf teilnimmt, hat ihn das Velofieber gepackt. Der Pilot oder die Pilotin, so heisst die Person vorne auf dem Tandem, erklärt ihm während der Fahrten, was er oder sie sieht. «Ich habe einst alles gesehen. Wenn wir heute durch den Wald fahren, stelle ich mir vor, ich würde ihn sehen», erklärte er uns. VCS-Redaktorin Viviane Barben nutzte die Gelegenheit und nahm kurzerhand selbst als Co-Pilotin an der 35-Kilometer-Ausfahrt über Stock und Stein teil. Dabei hat sie am eigenen Leib erfahren, dass die Inclusio-Ausfahrten alles andere als gemütliche Kaffeefahrten sind.
Ute Studer fährt bereits ihr Leben lang oft und gerne Velo. Sie hat Mühe mit dem Gleichgewicht und ist deshalb seit einigen Jahren mit einem Dreirad unterwegs. Wie Hans Ruedi scheut auch Ute Studer die Anstrengung nicht. Am Wochenende unternimmt sie gerne Touren
und ist dabei auch auf der Grossen Scheidegg, der Rigi oder dem Pilatus anzutreffen. Unsere Bedenken, dass so eine Abfahrt ganz schön gefährlich sei, schlägt sie in den Wind und sagt: «Ich fahre sehr gerne schnell.»
Der junge, fitte Mann als Referenz
Hans Ruedi und Ute Studer sind Teil einer Vielfalt, wie wir sie uns auf dem Velo häufiger wünschen. Die Schweizer Velogeschichte ist geprägt vom amerikanischen Konzept des «vehicular cyclist»: Das Fahrzeug Velo quasi als minderwertiges Auto, auf dem typischerweise ein Mann sitzt. Das hat Auswirkungen auf die Infrastruktur, die denn auch an vielen Orten nicht für Menschen wie Hansruedi Stalder oder Ute Studer gedacht und umgesetzt ist. Und es hat Auswirkungen darauf, wer sich überhaupt aufs Velo setzt, wenn es als Fortbewegungsmittel für den jungen, fitten Mann gelesen wird.
Die Autor*innen des Buches «Velowende» nennen drei Ansätze, um das Velofahren zu fördern. Wir müssen, schreiben sie, «den gesellschaftspolitischen Prozess in Gang bringen, Veränderungen sichtbar machen, für die Velostadt werben». Zweitens müssen wir «Verantwortung wahrnehmen: Die Stadt so planen, dass alle sich in ihr bewegen können.» Und wir müssen die Vielfalt fördern, indem wir «in Mobilitätskonzepten die Bedürfnisse aller mitdenken». Nur so können wir die Dominanz des Bildes des «vehicular cyclist» verkleinern.
Die Typologie der Velofahrer*innen
Der US-Amerikaner Roger Geller hat 2006 mit die «Vier Typen von Velofahrer*innen» eine Typologie veröffentlicht, die international in der Fachwelt Anklang gefunden hat. Es gibt die Geschickten und Unerschrockenen, die keine spezielle Veloinfrastruktur wollen. Sie machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus. Die Motivierten und Zuversichtlichen machen circa sieben Prozent aus. Sie fahren gerne und oft Velo und machen diesen Entscheid nicht von der Infrastruktur abhängig. Gibt es Velowege, nutzen sie sie aber gerne. Es gibt die Interessierten und Besorgten. Diese Gruppe macht 60 Prozent der Bevölkerung aus. Sie wären bereit, Velo zu fahren, trauen es sich aber aus unterschiedlichen Gründen nicht zu. Die verbleibenden 33 Prozent sind die sogenannten Verweigerer*innen, die entweder nicht Velo fahren können oder wollen.
Bei den Interessierten gibt es viel Potenzial. Doch wie können wir diese Gruppe dazu bringen, auch tatsächlich Velo zu fahren? Indem wir ihnen eine Infrastruktur zur Verfügung stellen, auf der sie sich sicher fühlen. Aber auch, indem wir Velofahrer*innen als vielfältige Gruppe zeigen, statt uns auf den fitten Mann als Identifikationsfigur zu beschränken.
Velofahrer*innen wie Ute Studer und Hansruedi Stalder verändern unser Bild. Wer ihnen auf der Strasse begegnet, sieht, dass Velofahren auch für Menschen mit körperlichen Einschränkungen möglich ist. Wobei wir anfügen müssen, dass sich Ute Studer dezidiert zur Gruppe der Geschickten und Unerschrockenen zählt: «Ich halte meine Ellenbogen raus, wenn mich ein Lastwagen überholt.» Eine Studie der Universität Bern hat sich mit den Herausforderungen

und Bedürfnissen von Frauen mit Migrationsgeschichte befasst – mit besonderem Fokus auf das Velofahren. Der Abschlussbericht verweist ebenfalls auf die Wichtigkeit von Vorbildern. Die befragten Frauen sorgten sich, von anderen beobachtet zu werden und zum Gesprächsthema zu werden. «‹Role Models› könnten das stereotype Bild des Velofahrens aufbrechen, Hürden abbauen, zum Velofahren motivieren und die ungewollte Sichtbarkeit von Frauen mit Migrationsgeschichte verringern», schreiben die Studienautor*innen.
Vielfalt auch beim Einsatz
Wir haben aber Vielfalt auch beim Einsatz des Velos gesehen. Raphaël Dupertuis erzählte uns, dass er einst ein Sofa mit dem Cargovelo auf den Entsorgungshof gebracht hat – weil das Möbel im Auto keinen Platz fand. Marianne Kuster war als junge Frau als Gemeindekrankenschwester in der Stadt Zürich mit dem Velo unterwegs. Dann erneut im Alter von 63 Jahren für die Spitex: «Mir war Bewunderung garantiert. Nicht nur das: ich zeigte damit auf, dass Spitex-Dienst ohne Auto möglich ist und dass die Spitex Ausbildungsplätze an unter 18-Jährige ohne Fahrausweis vergeben kann!»

Raphaël Dupertuis betont die politische Komponente: «Wer Velo fährt, leistet einen positiven Beitrag zur Wende. Wegen des noch bestehenden Risikos ist es immer auch ein politisches Statement.»
Laura als Referenz
Wir wollten auch wissen, was sich Velofahrer*innen wünschen. Viele haben Vergleichbares gewünscht: Eine bessere Infrastruktur und mehr Platz fürs Velo. Eine bessere Kommunikation und gegenseitiges Verständnis – vor allem zwischen Autofahrer*innen und Velofahrer*innen. «Nicht alle Autofahrenden sind Raser und nicht alle Velofahrenden sind freiheitsliebende Chaot*innen, die sich nicht an die Regeln halten», sagte uns Jean-Marie Urfer.
Wer also dient als Referenz, wenn der «vehicular cyclist» ausgedient hat? Hier kommt Laura ins Spiel. Laura ist eine fiktive Person. Sie ist elf Jahre alt. Entwickelt wurde Laura vom deutschen Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Laura steht für die vielen Interessierten und Besorgten, die Velo fahren würden, wenn sie sich dabei sicher fühlen könnten.
Kann Laura in einer Stadt sicher und entspannt Velo fahren, ist das Ziel einer attraktiven und sicheren Veloinfrastruktur erreicht. Das Potenzial ist riesig: In der Schweiz besitzt gemäss Mikrozensus Mobilität und Verkehr die Hälfte bis zwei Drittel aller Menschen ein Velo. 10 bis 20 Prozent fahren regelmässig Velo.