#Begegnungsräume

Wie Strassen zu Lebens- und Begegnungsräumen werden

VCS Magazin 3/23  28. September 2023

Mitten in der Stadt oder in ländlichen Gegenden: der Verkehr diktiert die Gestaltung des öffentlichen Raumes und beeinflusst unser Verhalten. Damit der Strassenraum zu einem Lebens- und Begegnungsraum wird, plädieren wir für eine Priorisierung des Fuss- und Veloverkehrs, für Temporeduktion und eine Umgestaltung mit mehr Grünflächen.

Inhalt

  • Beleben wir die Strasse - Camille Marion
  • Das Velo gegen Krisen - Martin Winder
  • Geld fährt nicht Auto - Nelly Jaggi
  • Interview mit Jade Rudler: «Die Rolle der Stadtplanerin ist es, das Feld der Möglichkeiten zu öffnen» - Camille Marion
  • Bäume! Bäume? - Nelly jaggi
  • «Mein Haus kannst du kompostieren» - Nadja Mühlemann

Beleben wir die Strasse

Camille Marion

Einladende Strassen animieren zum Verweilen. Und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Verkehrsmitteln erhöht die Sicherheit und die Lebensqualität – in Wohnoder Geschäftsquartieren und rund um Schulen.

«Beleben wir die Strasse.» Schliessen Sie die Augen, lassen Sie die Aufforderung auf sich wirken und achten Sie auf die von Ihrer Fantasie produzierten Bilder: Sehen Sie Kinder beim Ballspiel? Menschen bei einem Schwatz vor der Haustüre? Einen Kinderwagen oder ein Velo an der Strassenecke? Auf der Strasse, die Sie sich vorstellen, wird wohl nicht gerade ein Auto vorbeifahren oder jemand einen Parkplatz suchen. Wo Lebendigkeit den Ton angibt, sind mehr Menschen unterwegs als Fahrzeuge.

Mit dem Aufkommen des Autos wurden die Wege unserer Städte und Dörfer zu Durchfahrtstrassen. Die Siedlungsentwicklung folgte dem Motto «Alles für das Auto» und hat andere Mobilitätsformen an den Rand gedrängt. Deshalb müssen wir nun auf einem engen Trottoir das Gleichgewicht zu halten versuchen oder werden auf dem Velo von vorbeifahrenden Autos gestreift. Und der Weg zur Schule macht uns so sehr Angst, dass wir unsere Kinder lieber gleich hinfahren.

Mobilität gehört zu unserem Alltag. Wir sind fast immer unterwegs, ob zur Arbeit oder während der Freizeit. Strassen wiederbeleben heisst nicht, uns zur Immobilität zu verdammen oder die Autos völlig zu verbannen, sondern vielmehr, unsere Fortbewegungsarten zu überdenken und das Zusammenspiel aller Transportmittel zu fördern. Noch ist unsere Mobilität jedoch weit vom Gleichgewicht entfernt.

Auf die Bremse treten

Damit der öffentliche Raum wieder lebendig wird, muss der Verkehr langsamer werden. «Bei einer Beschränkung der Geschwindigkeit auf 30 km/h steigt die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer erheblich und sie lassen sich aufs Flanieren und Anhalten ein», erklärt Michael Rytz, Fachleiter Verkehrssicherheit beim VCS Schweiz.

Viele Fachleute für Mobilität und Verkehrssicherheit plädieren wie der VCS für den Paradigmenwechsel «Generell 30» statt «Generell 50» km/h. So etwa die Beratungsstelle für Unfallverhütung: «Mindestens ein Drittel der schweren Unfälle liesse sich mit der systematischeren Einführung von Tempo 30 verhindern, ohne negative Auswirkungen des Sicherheitsgewinns auf den Verkehrsfluss.»

Schweizweit gibt es bereits viele Tempo-30-Zonen und ihr Mehrwert ist weithin anerkannt. Nicht zuletzt deshalb profitieren die Gemeinden seit Anfang dieses Jahres von einem vereinfachten Verfahren zur Einführung solcher Zonen. Eines der entscheidenden Argumente ist das der Lebensqualität: «Reduziert man die Geschwindigkeit, sinkt die Lärmbelastung für die Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer, aber auch für all jene, die an stark befahrenen Strassen wohnen», bestätigt Rytz.

Neue Prioritäten

Tempo 30 ist eine Vorbedingung für mehr Sicherheit und Lebensqualität innerorts, wobei andere Massnahmen zusätzliche Verbesserungen brächten. Denn der Slogan «30 ist das neue 50» ist schon bald Schnee von gestern. Mit den immer häufigeren Begegnungszonen in Wohn- und Geschäftsvierteln steht «20 ist das neue 30» am Horizont. Bei Tempo 20 verlagert sich der herkömmliche Schwerpunkt der Transportmittel, und der Fussgängerverkehr erhält Vorrang.

Die erste Begegnungszone wurde 1996 in Burgdorf (BE) geschaffen. Als Umweltbelange im Hinblick auf die Siedlungsentwicklung noch weniger Gewicht hatten als heute, war das Ausscheiden einer «Flanierzone» ein ambitioniertes Vorhaben. Das von VCS und Bundesamt für Energie gemeinsam lancierte Pilotprojekt überzeugte allerdings gerade auch deshalb, weil die Bevölkerung, das Gewerbe und die Anliegen der politischen Parteien in den Planungsprozess einbezogen wurden. Nur ein Vierteljahrhundert später kann sich Burgdorf niemand mehr ohne Begegnungszone vorstellen.

Gedeihliches Zusammenspiel

Das Verknüpfen der Transportmittel ohne Ausschluss des Autoverkehrs im Rahmen von Begegnungszonen eignet sich für die Nutzung bestimmter Bereiche besonders gut: etwa historische Ortskerne, rund um Bahnhöfe oder Schulen sowie in Wohn- und Geschäftsvierteln. Bei letzteren wird häufig befürchtet, dass die motorisierte Kundschaft ohne nahe gelegene Parkplätze ausbleibt. Jüngere Studien zeigen im Gegensatz zu diesen weit verbreiteten Ansichten allerdings auf, dass sich die Umwandlung von Geschäftsvierteln in Fussgängerzonen positiv auf den Umsatz der betroffenen Geschäfte auswirkt.

Die Beschränkung auf Tempo 20 in Begegnungszonen erhöht nicht bloss die Sicherheit für den Fuss- und Veloverkehr, auch die Gestaltung des öffentlichen Raums erhält mehr Spielraum. Ein durchdachtes Miteinander der Verkehrsmittel führt zu Verlangsamung, man flaniert, hält an und bleibt sitzen. Kurz, man nimmt sich Zeit.

Fast dreissig Jahre nach Einführung der ersten Begegnungszone leuchtet der Vorteil für die Lebensqualität durchgehend ein. Ob Lausanne, Bern, Freiburg, Zürich, Genf, Bellinzona, Sitten, aber auch Renens (VD), Manno (TI), Brugg (AG), Bremgarten (AG), Schlieren (ZH), Versoix (GE) oder Wald (ZH): sie alle sind in den letzten Jahren dem Beispiel Burgdorf gefolgt, was letztlich auch nicht überrascht.

    

Damit der öffentliche Raum wieder lebendig wird, muss der Verkehr langsamer werden.

    

Ideenexport und -import
Zur Einführung der ersten Begegnungszone brauchte es 1996 noch einigen Mut. Doch ihr Erfolg wurde auch jenseits der Landesgrenzen rasch ruchbar und zeigt die Anpassbarkeit des Konzepts an unterschiedlichste Situationen. Mut ist allerdings auch vonnöten, um sich von ausländischen Erfolgsgeschichten inspirieren zu lassen und die zugrunde liegenden Konzepte in unser Land zu importieren. Dies gilt etwa für die sogenannten Schulstrassen. Alice Gentile ist Projektleiterin im Bureau romand des VCS und von deren Potenzial überzeugt: «In vielen europäischen Städten wurden Schulstrassen eingerichtet, um rund um die Schulen die Sicherheit zu erhöhen. Die Schweiz muss hier unbedingt nachziehen.»

Ein einziger Satz reicht, um das Schulstrassenkonzept zu umschreiben: Es geht um die temporäre Schliessung einer oder mehrerer Zufahrten zu den Schulhäusern bei Schulbeginn und Schulschluss. Das zeitlich beschränkte Autofahrverbot erhöht die Sicherheit und fördert das Zurücklegen des Schulwegs zu Fuss oder mit dem Velo. Dazu kommt: «Schulstrassen wirken sich auch positiv auf die Gesundheit aller aus. Dank ihnen verbessert sich die Luftqualität rund um die Schulanlagen, und sie fördern die körperliche Betätigung der Kinder», führt Gentile aus.

Erfolgsrezepte
Vorkämpferinnen und Vorkämpfer in Belgien, England, Frankreich, Italien und Kanada haben zusammengetragen, was es braucht, um eine Schulstrasse einzurichten. Idealerweise geht es um eine Schule in einem Wohnviertel, durch das keine öffe tlichen Verkehrsmittel hindurchfahren. Am Anfang steht ein partizipativer Ansatz, der Kinder, Eltern, Lehrpersonen und Bevölkerung einbezieht. «Es braucht jeweils zwingend eine halbjährige Testphase, um die konkreten Auswirkungen auf den Verkehr zu beobachten, die Gestaltung allenfalls anzupassen und jene zu überzeugen, die sich mit den Massnahmen allenfalls noch schwertun», ergänzt Gentile.

Ein paar Schweizer Gemeinden sind daran, Schulstrassen im Bewusstsein des potenziellen Gewinns an Sicherheit und Lebensqualität einzurichten. Dies allerdings noch sehr zurückhaltend. Dabei begleitet sie der VCS mit seinem Fachwissen in Sachen Mobilität der Kinder und in engem Kontakt zu ausländischen Vereinen und internationalen Netzwerken.

Kinder als Indikatoren

Gehen die Kinder zu Fuss oder mit dem Velo zur Schule, nimmt der Autoverkehr ab, aber auch das Phänomen der «Elterntaxis», was die Wege spürbar sicherer macht. In der Folge steigt das Sicherheitsgefühl, die Eltern haben weniger Bedenken und sind eher bereit, ihre Kinder zu Fuss oder mit dem Velo zur Schule zu schicken. Die von Schulstrassen in Gang gesetzte Aufwärtsspirale dient allen Nutzerinnen und Nutzern der betroffe en Strassenabschnitte: weniger Lärm und Dreck, mehr Sicherheit und Lebensqualität rund um die Schulanlagen.

Die Anwesenheit von Kindern auf den Strassen wird so zum Qualitätsbarometer für den öffe tlichen Raum. Deswegen ist es im Hinblick auf die Stadt von morgen entscheidend, die Mobilität rund um die Schulanlagen unter die Lupe zu nehmen. Gelungen ist die Gestaltung des öffentlichen Raums dann, wenn die Strassen zu sicheren Wegen werden, wenn die Jüngsten da auch mal spielen können. Treten Kinderstimmen an die Stelle des Verkehrslärms, kann man sicher sein, dass der öffentliche Raum lebt.

    

Das Velo gegen Krisen

Martin Winder

Der Klimawandel, die drohende Energieknappheit oder die Covidpandemie wirken sich auf unsere Mobilität aus. Dank kleinräumiger Siedlungsstruktur und dem Velo als Hauptverkehrsmittel wird das Verkehrssystem resistenter.

Was macht Verkehr widerstandsfähig?

Mit Blick auf den Klimawandel, die drohende Energieknappheit oder jüngst die Covidpandemie eine drängende Frage. Für den VCS ist klar: Das Velo ist das resilienteste, also das widerstandsfähigste, Verkehrsmittel – übertroffen nur noch von den eigenen Füssen. Ein Velo ist leicht und günstig, es ist umweltfreundlich und es braucht wenig Platz. Velofahren funktioniert mit Muskelkraft und allenfalls mit ein wenig Strom. Eine gute Veloinfrastruktur ist wünschenswert, doch notfalls tut es auch ein Feldweg.

    

Sogar für Kürzeststrecken von 1,1 bis 2 Kilometer wählen mehr Menschen das Auto als das Velo.

    

Autos hingegen benötigen Treibstoff oder Strom. Insbesondere bei Verbrennern sprechen wir von importierter Energie – per Pipeline, Bahn oder Schiff über den Rhein. Gerade der Importweg per Schiff ist aufgrund der Klimakrise unzuverlässig. Im Sommer sinken die Rheinpegel regelmässig derart stark ab, dass die Tanker nur wenig Fracht laden können. Um die Versorgung zu garantieren, musste der Bund im vergangenen Jahr deswegen die Pflichtlagerreserven anzapfen. Auch besteht eine grosse Abhängigkeit von den oft diktatorisch regierten Förderländern.

Auch in der 15-Minuten-Stadt ...
Der Veloverkehr hingegen ist für viele denkbare Krisen gewappnet. Damit stärkt ein höherer Anteil an Velo- (und Fuss-) Verkehr das gesamte Verkehrssystem. Entscheidend für das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung ist die Siedlungsstruktur. In der sogenannten 15-Minuten-Stadt können alltägliche Wege zur Arbeit oder Ausbildung, zum Einkaufen oder für die Freizeit möglichst innerhalb von 15 Minuten zu Fuss, mit dem Velo oder mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt werden. Erreicht wird dies durch eine Raumplanung der kurzen Wege, gut ausgebaute und sichere Veloinfrastruktur und ein entsprechendes ÖV-Angebot. Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung lebt heute schon in einer Stadt oder in der Agglomeration, ideale Voraussetzungen für einen Lebensstil à la 15-Minuten-Stadt. So hat in der Schweiz jede Stadt und fast jedes Dorf ein Freibad. Dieses ist in der Regel gut innerhalb von 15 Minuten mit dem Velo erreichbar.

… zu viele Autostrecken
Doch obwohl die Mehrheit der Badibesucherinnen und -besucher aus der unmittelbaren Umgebung kommt, sind die Parkplätze an schönen Sommertagen regelmässig überfüllt. Ein Blick auf den Mikrozensus Verkehr bestätigt diesen Eindruck. Das Velo spielt derzeit auf kurzen Strecken noch eine zu kleine Rolle (vgl. dazu auch die Grafik auf Seite 5). Aktuell werden 44 Prozent der Strecken mit dem Auto als Hauptverkehrsmittel zurückgelegt. Auffällig ist: bereits 38 Prozent der Wege von 3,1 bis 5 Kilometer werden mit dem Auto gefahren. Sogar für Kürzeststrecken von 1,1 bis 2 Kilometer wählen mehr Menschen das Auto als das Velo (8 versus 11 Prozent).

Die Resilienz unserer Mobilität und unserer Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs hängt von vielen Faktoren ab. Erst ein Krisenfall zeigt, wie widerstandsfähig das System ist. Mit erneuerbarer Energie und einer Raumplanung, die kurze Wege zwischen Wohn-, Arbeits- und Einkaufsorten ermöglicht, reduzieren wir den Energieverbrauch und die Abhängigkeit von energieintensiven Verkehrsmitteln.

Martin Winder ist Projektleiter Verkehrspolitik beim VCS Schweiz. Er wohnt in der Nähe einer Badi mit oft leeren Veloständern und vollen Parkplätzen.

    

Geld fährt nicht Auto

Nelly Jaggi

Es ist die Gretchenfrage an den Geschäftsstrassen in Innenstädten: Welchen Einfluss hat das gewählte Verkehrsmittel für die Anreise darauf, ob jemand viel oder wenig Geld ausgibt? Ein Blick auf verschiedene Studienergebnisse.

In der Schweiz sind viele Wege kurz, das zeigt die Grafik auf Seite 5, das zeigt der Beitrag auf der gegenüberliegenden Seite. Trotzdem ist das Auto dominant – bei der Verkehrsmittelwahl und beim Bild des öffentlichen Raums. Gerade in Städten, wo der Platz knapp ist, brauchen wir Alternativen. Auch mit Blick auf Beispiele ausserhalb der Schweiz liegt der Schluss nahe, autofreie Innenstädte zu fordern. Kritik an Autofrei-Konzepten wird in der Regel von Seiten Gewerbe laut. Doch ist es tatsächlich so problematisch, wenn die Innenstadt (oder Teile davon) für den motorisierten Verkehr gesperrt werden? Verschiedene Studien haben sich jüngst mit dieser Frage befasst.

 

Richtig Geld verdienen lässt sich also an Geschäftsstrassen, die zum Flanieren, Verweilen, Shoppen oder Konsumieren einladen.

Realität versus Wahrnehmung

Der Verband «Fussverkehr Schweiz» hat die Attraktivität von Geschäftsstrassen in sechs Städten der Romandie (Bulle, Carouge, Freiburg, Lancy, Vevey und Yverdon-les-Bains) erhoben. Beantworten wollte die Studie unter anderem die Frage, woher die Passantinnen und Passanten anreisen und welche Verkehrsmittel sie dafür benützen. Gleichzeitig wurden die Gewerbetreibenden gefragt, wie viele Kundinnen und Kunden gemäss ihrer Einschätzung mit dem Auto kommen. Dabei zeigte sich, dass das Gewerbe den Anteil an Kundinnen und Kunden, die mit dem Auto anfahren, viel höher einschätzt, als er tatsächlich ist. In den betreffe den sechs Geschäftsstrassen reisen doppelt so viele zu Fuss (46 Prozent) als mit dem Auto (23 Prozent) an.

Auch gezeigt hat sich, dass ein Grossteil der Klientel innerstädtischer Geschäftsstrassen aus der eigenen Gemeinde stammt. Entsprechend empfehlen die Autorinnen und Autoren der Studie, das Potenzial der lokalen Kundschaft zu pfl gen und zu erweitern. Weil ein Drittel der Einkäufe spontan gemacht wird, ist es umso wichtiger, dass sich die Kundinnen und Kunden wohlfühlen. Die meisten machen nur kleine Einkäufe, die in einer Tasche Platz haben.

Positiver Effekt

Ähnliches brachte eine Studie aus Berlin zutage. Dort gingen die Gewerbetreibenden davon aus, dass 21,6 Prozent der Kundinnen und Kunden mit dem Auto anreisen. Gemäss erhobenen Daten sind es aber nur 6,6 Prozent. Je eher jemand selbst mit dem Auto anreist, desto eher nimmt er oder sie an, dass auch die Kundinnen und Kunden das Auto nutzen.

Dass weniger Autoverkehr in Innenstädten einen positiven Effekt auf die lokale Wirtschaft hat, zeigt eine Untersuchung aus Zürich: Sind die Strassen verkehrsberuhigt, ist die Wertschöpfung im Vergleich zu verkehrsorientierten Strassen ungefähr doppelt so gross. In diese Richtung äusserten sich auch Gewerbetreibende an einer Veranstaltung der Schweizerischen Verkehrs-Stiftung SVS. Für bestimmte Dienstleistungen im Bereich Gastronomie und Detailhandel ist eine Verkehrsberuhigung ökonomisch attraktiv. Produktionsbetriebe oder Möbelunternehmen hingegen brauchen einen geregelten Zugang, damit sie ökonomisch überleben können.

Flanieren statt parkieren
In Geld ausgedrückt: Kundinnen und Kunden, die mit dem Auto gekommen sind, sorgen nur für zehn Prozent des Umsatzes. Richtig Geld verdienen lässt sich also an Geschäftsstrassen, die zum Flanieren, Verweilen, Shoppen oder Konsumieren einladen. Selbstredend lösen all diese positiven und zukunftsweisenden Erkenntnisse ein weiteres grosses Problem nicht: den anhaltenden Trend zu Einkaufszentren «auf der grünen Wiese», die wohl einen grossen Teil des Gesamtumsatzes im Detailhandel ausmachen und ganz und gar auf autofahrende Kundschaft ausgerichtet sind.

Dort, wo verkehrsarme Konzepte bereits umgesetzt sind, überzeugen sie und die meisten möchten nicht mehr zurück zum alten Regime. Grundvoraussetzung ist überall ein gutes Angebot für den Fuss- und Veloverkehr sowie ÖVAnschluss. Schon Zufahrtsbeschränkungen können die Aufenthaltsqualität signifikant erhöhen. Je attraktiver die Geschäftsstrassen in der Innenstadt sind, desto besser sind die Chancen für das dortige Gewerbe – und damit für die Verlagerung der kurzen Wege auf den Fuss- und Veloverkehr.

    

Interview: «Die Rolle der Stadtplanerin ist es, das Feld der Möglichkeiten zu öffnen»

Das Atelier OLGa, ein Büro für Stadtplanung in Renens (VD), lädt ein, Lebens- und Durchgangsorte neu zu denken – mit temporären Einrichtungen, die oft bestehen bleiben. Ein Interview mit der Mitbegründerin Jade Rudler.

Zum Interview

    

Bäume! Bäume?

Jaggi Nelly

Im städtischen Raum wird es im Sommer jedes Jahr heisser. Warum das so ist, was dagegen hilft und welche Rolle die Politik spielt – kurz- und langfristig.

Kinder legen sich im Freibad nach dem Baden gerne am Beckenrand auf den aufgeheizten Boden. Was bei blauen Lippen und klappernden Zähnen angenehm ist, führt im urbanen Raum zu Problemen. Häufigere und stärkere Hitzewellen sorgen dafür, dass es in den Städten immer heisser wird. Der versiegelte Boden nimmt die Hitze auf und speichert sie. Im Vergleich zum ländlichen Raum gibt es weniger Schatten und die Luft wird weniger gut ausgetauscht. Ein prominentes Beispiel für eine städtische Hitzeinsel ist die Europaallee in Zürich mit ihren dunklen Böden und den vielen Glasfassaden: Misst die Lufttemperatur 26 Grad, wird der Boden dort 42 Grad heiss.

Auch nachts kühlen Städte weniger ab. Gemäss MeteoSchweiz sorgt die verzögerte Abstrahlung dafür, dass die Temperatur in Städten nachts um fünf bis sieben Grad höher ist als im ländlichen Umland. Tropennächte, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad fällt, stellen für die Menschen ein Risiko für die Gesundheit dar, da die Erholung leidet.

    

Ein politisches Instrument gegen das Hitzeproblem sind die Stadtklima-Initiativen, die in zahlreichen Schweizer Städten fordern, dass Strassenraum zu Grünraum wird.

    

Initiativen gegen die Hitze

Oft ist die Gestaltung des öffentlichen Raumes eine politische Frage und es werden verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen. Ein politisches Instrument gegen das Hitzeproblem sind die Stadtklima-Initiativen, die in zahlreichen Schweizer Städten fordern, dass Strassenraum zu Grünraum wird. In Bern beispielsweise soll bis 2032 pro Jahr ein Prozent der Strassenfläche in neue, klimagerechte Begegnungsorte und Zonen mit hoher Aufenthaltsqualität umgewandelt werden.

Und 0,5 Prozent des öffe tlichen Strassenraums gegenüber dem Stand von 2022 entsiegelt und begrünt werden. Also: Bäume pflanzen als Lösung gegen die Hitzeproblematik? Schliesslich wirft ein Baum Schatten und er verdunstet Wasser und kühlt damit die Umgebung ab. Gerade in Städten ist es aber nicht immer einfach, Bäume zu pflanzen. So müssen Plätze zum Beispiel unterschiedliche Zwecke erfüllen und nicht selten befinden sich unter ihnen Tiefgaragen. Diese wiederum halten – und damit zurück zum Abwägen von Interessen – immerhin einen Teil des Blechs von den Strassenrändern fern.

 

Kurz- und langfristige Massnahmen

Neubauten und Um- oder Neugestaltungen bieten die Chance, proaktiv zu handeln. Die Stadt Zürich hat dafür mögliche Massnahmen an den Gebäuden und im Aussenraum publiziert. So werden mit der richtigen Anordnung von Bauten bestehende Kaltluftströme nicht gebrochen. Indem begehbare und befahrbare Flächen nicht versiegelt werden, heizt sich der Boden weniger stark auf. Gegen Hitze helfen auch begrünte Dächer und Fassaden – nebenbei mit einem positiven Effekt auf die Artenvielfalt und die Biodiversität.

Dass auch beim Baumbestand Anpassungen möglich sind, zeigte jüngst die Stadt Genf: Dort wurde beschlossen, dass der Baumschnitt drastisch reduziert werden soll. Dadurch vergrössert sich die Schattenfläche in den nächsten Jahren um 250 Prozent. Das kommt auch im Freibad gelegen: Klappern die Zähne nicht mehr, legt sich das Kind früher oder später gerne auch unter den Baum.

 

Flâneur d’Or 2023

Der Flâneur d’Or zeichnet hervorragende Projekte für den Fussverkehr aus. Für die Ausgabe 2023 wurden rund 60 vielfältige und gut dokumentierte Projekte aus der ganzen Schweiz eingereicht. Konzepte, Platzneugestaltungen oder Neuorganisationen zeigen, wie aus Betonwüsten Räume entstehen, die zum Aufenthalt im öffentlichen Raum einladen. Die Preisverleihung findet am 6. Oktober statt.

Weitere Infos unter www.flaneurdor.ch

 

    

«Mein Haus kannst du kompostieren»

Nadja Mühlemann

Klimafreundliche Gebäude inmitten einer Gartenoase und ein Mobilitätskonzept – in einer ländlichen Gemeinde nahe Solothurn gibt es genau das. Nicht zuletzt dank grosser Motivation eines Einzelnen.

Autofrei gleich urban? Eine Genossenschaft, umgeben von tadellosem ÖV und attraktiven Angeboten für Familien und Wohngemeinschaften? Dass solche Wohnkonzepte nicht nur in der Stadt funktionieren, zeigt das Projekt von Ueli Flury in Deitingen (SO). Auf dem Grundstück des 66-Jährigen stehen ein Bauernhaus, ein Lehmhaus und eine Baustelle, auf der ein Mehrfamilienhaus entsteht.

Bezüglich Autobesitz und Parkplätze gibt es klare Regeln. Mit der Planung des Neubaus wurde bei der Gemeinde das erste Mobilitätskonzept eingereicht. Es stehen Abstellplätze für Velos und eine Ladestation für Elektrovelos zur Verfügung. Für grosse Einkäufe können die Bewohnerinnen und Bewohner ein gemeinschaftliches Cargovelo nutzen. Sollte ein Auto vonnöten sein, gibt es einen wasserstoffbetriebenen Kleinwagen zur gemeinsamen Nutzung.

Nur Vorteile

Samuel Bernhard, Projektleiter der Plattform autofrei/autoarm Wohnen, entwickelte – zusammen mit dem Architekten des Studio OU GmbH, Joel Flückiger – das Mobilitätskonzept für das Fluryhaus: «Während autofreie Siedlungen in der Stadt bekannt sind, war es für die Planungskommission in Deitingen Neuland.» Trotz des eher urbanen Ursprungs stünden die Chancen aber gut für weitere ländliche autoreduzierte Siedlungen: «Man muss die Bau- und Planungsabteilung der Gemeinde von den Vorteilen überzeugen; mehr Sicherheit auf den Schulwegen, mehr Platz für Begegnungsräume und weniger Lärm. Und man muss konkret aufzeigen, wie die Parkplatzreduktion für alle Beteiligten ein Vorteil sein kann.»

    

«Man muss die Bau- und Planungsabteilung der Gemeinde von den Vorteilen überzeugen, die weniger Autos im Dorf haben.»

Samuel Bernhard

    

Umweltfreundlicher geht’s kaum

Das Engagement für ein nachhaltiges Leben ergänzt Flury mit der Bauweise seiner Häuser: Seit 2009 wohnt er in einem Lehmhaus. Das gesamte Baumaterial – Naturstein, Lehm, Stroh und Holz – stammt aus einem Umkreis von weniger als zehn Kilometern. «Rechnet man den Bau, das Wohnen und Recycling der Materialien, verbraucht dieses Haus nur ein Drittel der grauen Energie gegenüber einem Minergie-zertifizierten Haus», sagt Flury stolz.

Neben dem Lehmhaus und dem alten Bauernhaus entsteht zurzeit ein weiteres Gebäude: das Holz-Mehrfamilienhaus Flury. Das neben dem Lehmhaus entstehende Mehrfamilienhaus besteht aus Schweizer Holz und wird auch dadurch isoliert.

«Eine Grundwasser-Wärmepumpe versorgt alle drei Gebäude mit nachhaltiger Heizenergie», erklärt Flury. Die Solarzellen auf den Dächern liefern genügend Strom. Auch Trinkwasser wird nicht unnötig verschwendet: Was aussieht wie ein Teich, ist die Schilfkläranlage, in der das Grauwasser für die WCSpülungen gereinigt wird.

Flury hat ein kleines Paradies geschaffen. Zwischen dicken Holz- und Lehmwänden vorbei am alten Bauernhaus geht es direkt in die Gartenoase mit Bänken und Tischen zum gemeinsamen Verweilen: Ein Paradebeispiel für nachhaltiges Wohnen in ländlichem Gebiet. Eine der drei neu entstehenden Wohnungen ist bereits an eine Familie vergeben, sie wird voraussichtlich im November einziehen.

Die Plattform PAWO

PAWO erstellte das Mobilitätskonzept für das Fluryhaus in Deitingen. Die Plattform wurde 2014 aufgebaut und unterstützt Wohnbauträger und Gemeinden bei der Planung und Umsetzung autoreduzierter Siedlungen.

Mehr Informationen unter: www.wohnbau-mobilitaet.ch

 

Nadja Mühlemann ist Projektleiterin beim VCS Schweiz und begeistert von autofreien Siedlungen.

    

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