Lebenswerte Städte

Nelly Jaggi

Was macht eine Stadt lebenswert? Welche Rolle spielt Lärm? Und welchen Einfluss hat Tempo 30 auf das mehrdimensionale Konzept der Lebensqualität? Der Fokus auf neun Schweizer Städte und ein Blick nach Deutschland.

Bei den Diskussionen zu den Inhalten dieses Magazindossiers waren wir uns einig: Wir wünschen uns ruhige Strassen für laute Menschen. Denn nicht Stille macht eine Stadt lebenswert, sondern eben: Leben. Was also muss erfüllt sein, damit die Strassen einer Stadt von Menschen belebt werden?

«Wir kranken alle noch an einem alten Bild, die Strasse gehört immer noch einseitig dem Auto», sagt Michael Rytz, der sich seit über 20 Jahren als Projektleiter beim VCS engagiert. «Die Frage, wem man wie viel Platz zur Verfügung stellt, wird aber immer wichtiger. Sollen beispielsweise Innenhöfe mit Parkfeldern zugepflastert sein? Oder möchte man den lärmgeschützten Raum begrünen und den Bewohnerinnen und Bewohnern als Aufenthaltsort anbieten – inklusive Kühleffekt an heissen Tagen?» Im Verhältnis zu seiner Verkehrsleistung beansprucht das Auto deutlich mehr Fläche – wenn es fährt und wenn es parkiert ist – als der öffentliche Verkehr (ÖV) oder der Fuss- und Veloverkehr. Ist der Platz knapp, sollte dieser möglichst effizient genutzt werden.

Und wieder: Tempo 30

Wer über Platzverteilung oder Lebensqualität spricht, landet früher oder später bei Tempo 30. Geschwindigkeitsreduktionen dürfen zu Recht als Kernkriterium für Lebensqualität gelten. Das zeigt aktuell auch der Blick aufs benachbarte Deutschland: Dort fordert die Initiative «Lebenswerte Städte» für die Kommunen mehr Autonomie beim Entscheid, Temporeduktionen einzuführen. Im dazugehörigen Positionspapier steht: «Die Strassen gewinnen ihre Funktion als multifunktionale Orte zurück» (mehr dazu im Kasten).

Tempo 30 ist die effektivste Massnahme gegen Strassenlärm an der Quelle. Das ist weithin bekannt. Welch breit gefächerte Auswirkungen Temporeduktion auf die Lebensqualität haben, ist dennoch erstaunlich. Lebensqualität ist ein breiter Begriff. Sie misst, so schreibt es das Bundesamt für Statistik BFS, das «Wohlbefinden der Bevölkerung in seinen verschiedenen Dimensionen». Diese Dimensionen sind miteinander verbunden und einige haben einen handfesten und direkten Zusammenhang mit dem (oder einen grossen Einfluss auf den) Verkehr.

 

Einfluss auf die Lebensqualität

Für das Projekt «City Statistics» werden die Lebensbedingungen in über 900 Städten in Europa erhoben. Das BFS hat das Konzept den Besonderheiten der Schweiz angepasst und die Bedingungen in Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, Lugano, St. Gallen, Winterthur und Zürich untersucht.

Beginnen wir um der Logik willen mit der Lärmfrage: Der Strassenlärm wird bei der Wohnsituation berücksichtigt, nebst Belegungsgrad einer Wohnung, Leerwohnungsziffer und Wohnfläche. Tempo 30 reduziert den Lärm gegenüber Tempo 50 erheblich (mehr dazu lesen Sie auf den Seiten 20 und 21). Übrigens: Je mehr Elektroautos auf den Strassen unterwegs sind, desto stärker fällt dieser Effekt aus, weil das Motorengeräusch wegfällt (bei Geschwindigkeiten über 30 km/h dominiert unabhängig vom Antrieb das Rollgeräusch der Reifen). «Die Kombination von E-Mobilität und Tempo 30 könnte die Bewohnerinnen und Bewohner der Städte und Dörfer in naher Zeit von der dominierenden Ursache für krankmachenden Lärm befreien», sagt Rytz.

Die Unterschiede in den untersuchten Städten sind sehr gross. 2015 waren in Genf in der Nacht über 40 Prozent der Bevölkerung von übermässigem Strassenlärm (mehr als 55 Dezibel) betroffen, in St. Gallen waren es knapp 8 Prozent. Erfreulich: gegenüber 2012 hat der nächtliche Strassenlärm in allen untersuchten Städten abgenommen.

 

Beleben durch Teilen

In direktem Bezug zum Strassenverkehr und damit auch zum Tempo steht die persönliche Sicherheit. Dies beeinflusst die Zahl der im Strassenverkehr schwerverletzten oder getöteten Personen. Tempo 30 macht die Strassen erwiesenermassen sicherer. Gemäss der Beratungsstelle für Unfallverhütung BFU lassen sich mit Tempo 30 mindestens ein Drittel der schweren Unfälle verhindern.

Tempo 30 ermöglicht aber auch das Teilen der Strasse. Mit dem Effekt, dass die Menschen lieber unterwegs sind – zu Fuss oder mit dem Velo – und die Strassen beleben.

Ein weiteres Kriterium ist das ÖVNetz: Je dichter, desto attraktiver das Pendeln mit dem ÖV und desto entlasteter die Strassen. Ebenfalls ein Indikator für die Lebensqualität ist die Verkehrsmittelwahl für den Arbeitsweg. Da unterscheiden sich die Städte teils stark. In Lugano setzen über 50 Prozent aufs Auto, in Basel sind es «nur» gut 20 Prozent. Dafür schwingt Basel beim Velo mit 30 Prozent obenaus. In Zürich ist der ÖV mit über 60 Prozent klarer Favorit.

Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl hat der Arbeitsweg, ein Index für die Work-Life-Balance. Je kürzer die Wege, desto weniger Verkehr resultiert daraus. Und desto mehr Wege werden wahrscheinlich zu Fuss oder mit dem Velo zurückgelegt. Was wiederum positive Effekte auf den Lärm und auf die Sicherheit hat und im Idealfall weitere Menschen dazu bringt, zu Fuss zu gehen oder Velo zu fahren …

Einfluss auf die Lebensqualität einer Stadt hat der Anteil an Grün- und Erholungsflächen. Da ist Lugano Spitzenreiter mit über 67 Prozent. Allerdings sind die Werte stark durch die historisch bedingten Strukturen und die institutionell festgelegten Stadtgrenzen beeinflusst. So erstaunt nicht, dass Basel (16,6 Prozent) und Genf (knapp 19 Prozent) sehr viel weniger Anteile an Grün- und Erholungsflächen haben.

 

Fotostrecke: Das Stadtplanungsbüro Atelier OLGa (www.atelier-olga.ch) aus Renens (VD) hat unterschiedliche Umgestaltungen des öffentlichen Raumes realisiert. 

    

Auszeichnung als Gradmesser

Ein Ansatz für lebenswerte Städte ist die 15-Minuten-Stadt, in der alle Wege des Alltags ohne Auto innerhalb von 15 Minuten zurückgelegt werden können. Schaut man auf die Erreichbarkeit von Lebensmittelgeschäften, obligatorischen Schulen, Arztpraxen und Apotheken, erfüllen alle neun Städte dieses Kriterium.

Michael Rytz sieht hier eine Wechselwirkung: «Das Angebot richtet sich nach der Nachfrage. Je mehr die Mobilität auf das Auto ausgerichtet ist, desto schwieriger haben es etwa Einkaufsangebote in fussläufiger Distanz. Viele Fussgängerinnen und Fussgänger sind wiederum oft ein Indiz für attraktive öffentliche Räume. Und wo öffentliche Räume belebt werden, steigt die Lebensqualität», sagt er.

Ein Gradmesser dafür ist der «Flâneur d’Or». Der Preis zeichnet alle drei Jahre Infrastrukturen im öffentlichen Raum aus, die den Fussverkehr fördern. Das Siegerprojekt 2023, der «Rayon Vert» in Renens, zeigt beispielhaft, welch grossen Einfluss die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum auf die Lebensqualität hat. Die neue Passerelle «Rayon Vert», aber auch die Umgestaltung der Bahnhofplätze, werten den Ort auf: Es ist grüner, das Pendeln mit ÖV wurde einfacher und attraktiver. Und dank der grossflächig eingeführten Begegnungszone hat der Lärm abgenommen.

Dasselbe gilt für den Innenhof. «Wann haben wir Lust, den öffentlichen Raum zurückzuerobern – zum Beispiel als Ort für ein Gespräch?», fragt Rytz. An einem Ort, an dem wir uns wohl und sicher fühlen und von dem uns kein unnötiger Strassenlärm verscheucht.

 

Das fordern Städte in Deutschland

Die Initiative «Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten» fordert mehr Autonomie für die Städte und Gemeinden bei der Festlegung von Höchstgeschwindigkeiten. Heute ist dies in Deutschland nur bei konkreten Gefährdungen der Fall. Bis Ende 2023 engagierten sich bereits über 1000 Kommunen in der Initiative, die angemessene Geschwindigkeiten als Grundvoraussetzung für lebenswerte öffentliche Räume sieht: «Gerade die Strassen und Plätze mit ihren vielfältigen Funktionen sind das Gesicht und Rückgrat der Kommunen. Sie prägen Lebensqualität und Urbanität. Sie beeinflussen ganz entscheidend, ob Menschen gerne in ihrer Stadt oder Gemeinde leben.»

Weitere Infos unter www.lebenswerte-staedte.de

    

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