#Einkaufsmobilität

«Läden als Ort der Begegnung»

Yves Chatton und Nelly Jaggi – VCS-Magazin 3/2022

Ist Einkaufen im Geschäft oder Onlineshopping nachhaltiger? Kommt darauf an, sagt Maike Scherrer. Sie forscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft zu nachhaltigen Lieferketten und hat die Nachhaltigkeit von Medikamentenlieferdiensten und stationären Apotheken untersucht.

Maike Scherrer, welchen Stellenwert hat der Onlinehandel in der Schweiz? 

Der Anteil des Onlinehandels im Vergleich zum stationären Handel hat über die letzten Jahre stetig zugenommen. Wir sind heute bei einen Umsatzanteil von knapp 12 Prozent – 2008 waren es noch 3,5 Prozent.

Welche Unterschiede gibt es zwischen den verschiedenen Branchen?

Bei Lebensmitteln macht der Onlinehandel momentan knapp vier Prozent des gesamten Warenkorbs aus, bei Nonfood-Produkten sind es knapp 20 Prozent. Unterschiedliche Branchen befinden sich in unterschiedlichen Phasen des Wachstums. Während die Sättigung bei der Reisebranche bereits erreicht ist, steigt der Anteil bei Kleidern noch. Das grösste Wachstum wird bei Medikamenten und Lebensmitteln vorausgesagt, da diese Produkte noch sehr wenig über den Onlinekanal vertrieben werden.

Gibt es eine Erklärung für diese grossen Unterschiede? 

Dienstleistungen sind keine Güter, die man anfassen kann. Für Medien gilt heute: Ich brauche keine DVD mehr, sondern lade den Film auf mein Gerät runter. Für solche Produkte war der Wechsel auf E-Commerce einfach.

Wer kauft online ein? 

Männer bestellen mehr im Internet als Frauen. Je jünger die Leute, desto mehr kaufen sie online. Aber auch von den über 75-Jährigen bestellen 38 Prozent gelegentlich im Internet. Unterschiede bestehen beim Warenkorb: Ältere bestellen etwa Medikamente gegen chronische Krankheiten, je jünger, desto mehr wird querbeet online bestellt. Und je höher die Bildungsstufe, desto mehr wird im Internet bestellt.

Sie haben in einer Studie die Auswirkungen von Medikamentenlieferdiensten und stationären Apotheken in Bezug auf die Nachhaltigkeit verglichen. Welche Dimensionen der Nachhaltigkeit haben Sie dabei einbezogen?

Wir haben alle drei Säulen der Nachhaltigkeit berücksichtigt: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Bei der ökonomischen Nachhaltigkeit haben wir den Effekt auf die Wohlfahrt der Schweiz analysiert, würden die Kettenapotheken ihren Hauptsitz in einen steuergünstigen Kanton verlegen. Die ökonomischen Konsequenzen von einem Onlinekauf von Medikamenten für Privatpersonen konnten wir hingegen nicht analysieren.

Welche Aussagen können Sie zur sozialen Nachhaltigkeit machen?

Der soziale Wert einer stationären Apotheke ist für ein Dorf oder eine Stadt sehr gross. Gemäss den befragten Apothekerinnen und Apothekern ist das Gespräch mit den Mitarbeitenden der Apotheke oft wichtiger als der Warenkorb. Besonders ältere Personen und solche, die sozial nicht stark integriert sind, würden häufig in die Apotheke kommen – mehrmals pro Woche, auch in die gleiche Apotheke – und sehr wenig einkaufen, da die soziale Interaktion mit den Mitarbeitenden beim Gang in die Apotheke im Mittelpunkt steht.

Wie haben Sie die ökologische Nachhaltigkeit berechnet?

Wir haben die CO2-Emissionen des Onlineeinkaufs mit den Emissionen beim Einkauf in der Apotheke verglichen. Welchen Weg macht ein Paket beim Versand vom ersten Lagerort in der Schweiz über die verschiedenen Depots bis zur finalen Adresse? Dabei haben wir reale Sendungen verglichen und berücksichtigt, mit welchem Verkehrsmittel die Pakete transportiert werden. Auch wie häufig die gleiche Adresse durch den Paketlieferanten angefahren wird, weil niemand zu Hause ist, und was passiert, wenn das Paket zurück ins Depot geht. 
Für den Einkauf im Laden haben wir uns am Modalmix der Schweiz orientiert, also mit welchem Verkehrsmittel die Leute unterwegs sind. Dabei haben wir verschiedene Szenarien angeschaut: Man geht nur einkaufen, man geht auf dem Arbeitsweg einkaufen und man kombiniert die Einkaufsfahrt mit einer Privatfahrt. Verglichen haben wir Situationen in einem städtischen Umfeld, in der Agglomeration und auf dem Land.

«Aus ökologischer Perspektive sollte man in der Agglomeration und auf dem Land online einkaufen.»

Was sind die wichtigsten Schlüsse? 

Sozial ist der stationäre Handel wertvoller als der Onlinehandel. Ökologisch ist es genau umgekehrt. Wer auf dem Land lebt und selber einkaufen geht – mit dem Modalmix der Schweiz –, verbraucht im Vergleich zur Onlinebestellung dreimal so viel CO2. In der Agglomeration sind die Emissionen doppelt so hoch, in der Stadt ist der Verbrauch vergleichbar, weil man dort auch viel häufiger zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs ist.

Lassen sich aus den Studienergebnissen auch Schlüsse für andere Güter ableiten? 

Apotheken sind in Bezug auf die soziale Nachhaltigkeit speziell, da sich die Mitarbeitenden besonders viel Zeit für den einzelnen Kunden nehmen und sich nach dessen Wohlbefinden erkundigen. Aber auch alle anderen Läden sind ein Ort der Begegnung und der Wunsch, dass es in Städten und Siedlungen weiterhin Läden gibt, ist gegeben. Die Form der Läden wird sich aber vermutlich verändern – weg von reinen stationären Läden hin zu Omnichannel-Läden, wo nur ein kleines Sortiment vor Ort vorhanden ist und wo die Kundschaft die Produkte im Laden anschauen, dann aber direkt im Laden oder von zu Hause aus online bestellen kann. Der Bündelungseffekt durch den Onlinehandel hat bei allen Branchen den gleichen positiven Effekt auf die reduzierten Emissionen. Und grundsätzlich gilt beim Onlinehandel: Auch wenn im Internet eingekauft wird, sind die Leute mobil und haben nicht zwingend weniger CO2 verursacht.

Eine komplexe Angelegenheit … 

Die Idee der Studie war, zu einer klaren Antwort zu kommen, was nachhaltiger ist. Wir haben die Schlussfolgerung gezogen, dass man das nicht eindeutig sagen kann. Es kommt darauf an, ob man die ökologische oder die soziale Nachhaltigkeit priorisiert. Das ist eine Entscheidung, die jeder von uns für sich trifft und sein Handeln entsprechend danach ausrichten sollte.

Welche Rolle spielt die letzte Meile – online und beim Einkauf im Geschäft – im Vergleich zur gesamten L ieferkette?

Beim Onlinehandel verursacht die letzte Meile circa 50 Prozent der CO2-Emissionen. Dies wurde anhand von Heimelektronik mit Abfahrtsort China untersucht: Der Weg vom Werk zum Hafen von Shanghai, von Shanghai nach Rotterdam und von Rotterdam in die Schweiz verbraucht gleich viel CO2 wie der Weg vom Distributionszentrum in der Schweiz zur Lieferadresse. Das ist wieder der Bündelungseffkt. Der CO2-Wert für eine Digitalkamera auf einem riesigen Containerschiff ist winzig klein. Je grösser das Fahrzeug, desto kleiner die CO2-Emissionen pro Produkt. Kaufe ich die Digitalkamera im Laden und fahre mit dem Auto, verbraucht die letzte Meile gar doppelt so viel CO2 wie der gesamte Rest des Lieferwegs.

Einkaufen zu Fuss oder mit dem Velo, hat das also einen grossen Effekt?

Ja, so ist es. Darum ist die Diskussion um das Auto durchaus berechtigt. Dazu kommt beim Onlinehandel noch die Frage nach der Liefergeschwindigkeit: Spreche ich von der letzten Meile, denke ich an die Bündelung. Doch es gibt mittlerweile gar Unternehmen, die Same-Hour-Delivery versprechen. Das widerspricht dann sämtlichen ökologischen Vorteilen des Onlinehandels, weil das Versprechen der sofortigen Lieferung die Möglichkeit der Sendungsbündelung reduziert.

Was kann ich als Kundin oder als Kunde tun, um meine Onlineeinkäufe so nachhaltig wie möglich zu gestalten?

Spannend wäre die Wahlmöglichkeit: Wie schnell wird geliefert, mit welchem Transportmittel und zwischen Heimlieferung, Paketboxen oder Abholung beim Lieferanten. Pendle ich und führt mein Weg an einer Paketstation vorbei, ist es sinnvoll, das Paket dort abzuholen. Fahre ich hingegen dafür extra, ist es besser, das Paket nach Hause liefern zu lassen.
Alternativ könnten wir alle auch einfach anfangen, weniger zu konsumieren. Es wird so viel bestellt, das vielleicht einmal benutzt und weggeworfen wird. Wenn wir diese Tendenzen wieder besser in den Griff bekommen, hätten wir wohl den grössten Effekt auf die Nachhaltigkeit.

Geführt haben das Interview Yves Chatton, Projektleiter «Leben ohne Auto» beim VCS Schweiz,  und Nelly Jaggi, Co-Redaktionsleiterin VCS-Magazin.

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