Farbige und kontrastreiche Türkei

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Eine Radreise in der Türkei ist momentan kein heiteres Unternehmen, die politische Situation ist stets präsent. Aber die Menschen freuen sich über den Besucher aus der Schweiz. Und die Landschaft bleibt grossartig. Eine Reportage.

Keine Gespräche mit Frauen

Mit Frauen komme ich nie ins Gespräch. Ihre Situation ist für mich schwer einzuschätzen. Zwei Frauen an der Hotelrezeption flüchten, als sie mich in Velokleidung kommen sehen. Trotzdem bin ich überrascht, wie viele, vorab junge Frauen, sich ohne Kopftuch im öffentlichen städtischen Raum bewegen oder das Kopftuch scheinbar spielerisch als Accessoire und farblich bunt zur modischen Kleidung tragen.

Die meisten Männer lehnen das Regime ab, vertreten zugleich die Meinung, dass Erdogan weit weniger gefährlich sei, als westliche Medien ihn bewerten würden. Ein gebildeter Muslim in Erzurum sagt, dass ihn die Entwicklung in Polen, Ungarn, Tschechien oder Italien ebenso betrübe. Darüber berichte der Westen weniger düster als über die Türkei. Er vermute, dass nach wie vor eine diffuse Angst des Westens dem unbekannten Orient gegenüber bestehe. «Hast du Angst im Osten der Türkei?», fragt er mich. «Nein.» Im zentralen Anatolien habe man mir geraten, nicht in den Osten zu fahren, weil es zu gefährlich sei. «Ich habe mich nie bedroht gefühlt.»

Ungleiche Kontrollen

Es gibt viele Checkpoints an den Ein- und Ausfahrtsstrassen mittelgrosser Städte. Die Polizei winkt mich durch. Nur einmal werde ich genauer kontrolliert, selbst die Bilder auf dem Fotoapparat und dem Laptop muss ich zeigen. «Ich mache nur meine Arbeit», sagte der junge Polizist fast entschuldigend. Beklemmend ist es dennoch. Mir ist bewusst, dass viele in der Türkei nicht so schonungsvoll behandelt werden.

Im Osten ist die paramilitärisch ausgerüstete Polizei (Jandarma) mit Panzerfahrzeugen, Schützenstellungen hinter Sandsäcken und Betonblöcken noch präsenter. Ich bin im Siedlungsgebiet der Kurden. Vor einigen Jahren gab es auch hier Konflikte mit der PKK, weiter im Südosten flammen die Kämpfe immer wieder auf.

Tee trinken und beobachten

Trotz politisch angespannter Situation muss der Alltag weitergehen. Ich sitze mit Minenarbeitern um halb sechs schweigend beim Frühstück und kann ihre Arbeitsbedingungen nur erahnen. Im brechend vollen Hinterzimmer des Teehauses von Hassan in Erzurum schaue ich mit Fans des Fussballclubs Besiktas Istanbul ein Fussballspiel. Ich werde spontan zum Gebet des Opferfestes in die Moschee eingeladen. Am Vorabend erklärt mir der Metzger in seinem Betrieb das Ritual des Tieropfers für dieses Fest. Ich tauche in die Farben und Düfte der zahlreichen Basare ein. Am Zielort besuche ich ein Hammam und lasse mir vom türkischen Masseur fast die Knochen brechen, während er bei seiner Arbeit singt. Und Murat dürfte auch weiterhin gegen seinen Präsidenten schimpfen.

Nützliche Informationen

Anreise

  • Die Anreise dauerte drei Tage und drei Nächte: Zug von Zürich nach Ancona, Fährschiff nach Durrës (Albanien), Bus via Thessaloniki nach Alexandroupolis.

Wichtigste Stationen

  • Dardanellen (Meerenge im Mittelmeer), Kütahya (Kleinasien), Göreme (Kappadokien), Sivas (Zentralanatolien), Erzurum (grösste Stadt Ostanatoliens) und Dogubeyazıt an der iranischen Grenze. Die Planung der Etappen erfolgte von Tag zu Tag, die Route wurde auch spontan angepasst (schönes Hotel, schlechte Strasse, Müdigkeit, etc.).

Murat ist ein sanfter Mensch, aber wenn er zum Bildschirm schaut und Recep Tayyip Erdoğan in grosser Pose ein Edikt verkünden sieht, gerät er in helle Aufregung. Er faltet seine Hände und schaut zum Himmel hoch, obwohl er unterdessen weiss, dass von oben keine Hilfe kommt. Dann tritt er energisch mit dem rechten Fuss ins Leere, eine ungelenke Pantomime, die bedeutet, dass man diesen türkischen Präsidenten aus allen Ämtern kicken soll. «Seit Recep das Land regiert, kommen keine Touristen mehr», sagt er.

Der untersetzte Mann führt ein schönes Hotel, das in einer mittelgrossen Stadt Kappadokiens (Zentralanatolien) selbstbewusst neben der Moschee am Hauptplatz steht. Rundherum pulsiert das Leben. Marktstände, an denen Früchte, Socken und Unterhosen angeboten werden. Kleine Reparaturwerkstätten, Kuaförsalons und Restaurants locken mit ihren Angeboten.

Wie dem missgelaunten Murat ergeht es derzeit jenen, deren Lebensunterhalt von ausländischen Besucherinnen und Besuchern abhängig ist. Abschreckend auf Touristen seien vorab der Putschversuch vom Juli 2016, der Ausnahmezustand und die anhaltenden Verhaftungen von Kritikern des Regimes. Wer momentan abseits touristischer Zentren die Türkei bereist, wird täglich mit diesem Thema konfrontiert.

Land der Kontraste

Ich reise mit Zug, Schiff und Bus zur griechisch-türkischen Grenze. Die Radroute verläuft im Landesinneren, von Ipsala bis zum heiligen Berg Ararat nahe der iranischen Grenze. Gleich einer Zeitreise scheine ich verschiedene Länder zu passieren. Die Unterschiede zwischen dem türkischen Europa und Asien sind gross, ebenso jene zwischen Stadt und Land. Ärmliche Gegenden kontrastieren mit «modernen», protzigen Kleinstädten.

Nach den Mischwäldern in den westlichen Gebirgsregionen durchquere ich die Hochlandebenen Zentral- und Ostanatoliens zwischen 1500 und 2000 Metern über Meer. Durch steppenartiges, dünn besiedeltes Weideland, wo Bauernfamilien dem Boden Zuckerrüben, Getreide oder Tabak abtrotzen und grosse Schafherden in der kargen Landschaft nach Gräsern suchen, eingerahmt von Hügelzügen, die in der flirrenden Hitze fast verschwinden am Horizont.

In der ersten Woche suche ich einsame Wege. Sie enden oft unvermutet oder sind selbst mit dicken Fahrradreifen kaum passierbar. So befahre ich meistens Hauptstrassen, die ausserhalb der Städte recht verkehrsarm sind.

Viel Gastfreundschaft

Auf rund 2200 Fahrradkilometern treffe ich im Herbst hochsommerliches Wetter an, aber keinen Radtouristen. Ich erscheine derart ungewöhnlich, dass die lokale Presse in Akșehir eine Reportage über mich publizieren will. Ich lehne ab. Gerne lasse ich mich aber auf die Menschen ein, die interessiert und gastfreundlich sind, derart, dass man sich daran gewöhnen muss.

In Lapseki beschenkt mich eine Frau auf dem Markt wortlos mit Pfirsichen und Orangen. Der Kuaför will kein Geld für meinen Haarschnitt und schenkt mir ausserdem ein Buch. In Çan werde ich vom Hotelier zum privaten Grillabend eingeladen. Mindestens einmal pro Tag spendiert mir jemand einen Tee. Ein Student wartet zwei Stunden auf meinen Bus, nur um dem Chauffeur zu sagen, wohin ich möchte und ob er mir ein Hotel organisieren könne. Dabei ist die Suche kaum je ein Problem. Ich fahre zum grossen Platz, wo einige Männer beieinandersitzen, und frage nach einer Unterkunft. Alman? Ingilizce? Eine Minute später tritt einer aus der Gruppe und spricht Deutsch.

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