Radeln mit Meerblick

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Kurz vor der deutschen Wiedervereinigung beschloss die damalige DDR-Volkskammer, fünf Nationalpärke einzuzonen. Ein Vierteljahrhundert später beginnen diese Naturperlen, ihren vollen Glanz zu entfalten. Ein Besuch an der Ostsee.

30. September 1990. Die Volkskammer der DDR trifft sich zu ihrer letzten Sitzung. Das finale Traktandum auf der Tagesordnung: Die Abgeordneten beschliessen, fünf Nationalpärke auf DDR-Gebiet einzuzonen. Drei Tage später, bei der Wiedervereinigung, nimmt Deutschland diese riesigen geschützten Landflächen ins Gesetz auf.

Ein Vierteljahrhundert danach treten wir auf dem Ostseeküstenradweg, auf dem man von Lübeck bis nach Stralsund radeln kann, in die Pedale. Wir konzentrieren uns auf Fischland–Darss–Zingst, eine 45 Kilometer lange Halbinsel an der Ostseeküste zwischen Rostock und Stralsund, die den Bodden (plattdeutsch für «Boden», eine Lagune) von der offenen Ostsee trennt. Einst waren Fischland, Darss und Zingst drei voneinander getrennte Inseln. Doch die Flutrinnen wurden seit dem Mittelalter aus wirtschaftlichen Interessen mit Booten abgedichtet. Das Ostseesturmhochwasser von 1872, das viel Sand verschob, tat das Übrige hinzu.

 

Wind hat es eigentlich immer, hier oben am Meer. Doch das scheint die Velotouristen, die uns entgegenradeln, nicht zu stören. Vier von zehn Gästen in Mecklenburg-Vorpommern geben an, während ihres Urlaubs mindestens einmal Fahrrad zu fahren. Ein Viertel der Gäste bezeichnen ihren Aufenthalt sogar als Radurlaub. Kein Wunder, die 280 Kilometer Radweg zwischen Lübeck und Stralsund, die sich hier mit anderen Radwegen kreuzen, laden zu abwechslungsreichen Touren ein. Die Gäste reisen zwar mehrheitlich mit dem Auto an. Doch hier oben an der frischen Seeluft steigen sie aufs Velo um, Dicke und Dünne, Junge und Alte, Familien mit Kindern oder durchtrainierte Sportfahrer. «Mit dem Auto kommt man in den Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gar nicht hinein», erklärt Olaf Nagel, Gästebetreuer der Mecklenburger Radtour. «Deshalb sind so viele Leute mit dem Rad unterwegs. Man kann hier übrigens auch wunderbar wandern.» Wir machen Rast an einem Strand, der die perfekte Kulisse für Bacardi-Werbung abgeben würde: das Wasser glasklar, die Bäume vom Meer weiss ausgewaschen. Schwalben fliegen über unsere Köpfe und machen es sich in den porösen Sandsteinfelsen gemütlich. «An dieser Stelle, am Rehbergstrand, wird das Land vom Meer abgetragen und am anderen Ende der Halbinsel wieder angeschwemmt, wo sich breite Strände bilden. Wir überlassen die Natur der Natur. Erst jetzt, 26 Jahre nach der Umzonung, sieht man, wie sie sich ihren Raum zurückholt. Im Herbst ist das ein Paradies für Kraniche, und mit etwas Glück sieht man Rothirsche in ihrer Brunft», schwärmt Nagel.

 

An den Stränden von Fischland–Darss–Zingst tummeln sich zahlreiche bekannte und weniger bekannte Ostseebäder: Dierhagen, Wustrow, Ahrenshoop, Prerow sowie die Ostseeheilbäder Graal-Müritz und Zingst. «Ostseeheilbad» bedeutet die höchste Stufe auf der Gute-Luft-Skala. Am Schluss unserer Reise werden wir der Vinetastadt Barth einen Besuch abstatten; Vineta ist der Sage nach etwas Ähnliches wie das untergegangene Atlantis.

Ausgedehnte Landstriche gleich hinter den Stränden sind in dieser Gegend von Wäldern bedeckt. Die gute Seeluft, vermischt mit dem Klima des Urwalds, lockt viele Kurgäste an. Doch nur vom Tourismus zu leben, ist hier oben nicht so einfach. Die Betten- und somit auch die Gästezahl ist beschränkt, und eine Baubewilligung zu kriegen, schwierig (deshalb sieht es hier oben auch nicht so aus wie an der Costa del Sol). So versucht jeder Ort, sich ein unverwechselbares Gesicht zu geben. Ahrenshoop, wo im Grandhotel auch schon mal Bundespräsident Joachim Gauck oder berühmte Schauspieler absteigen, hat seit mehr als zwei Jahrzehnten einen umtriebigen Bürgermeister: Hans Götze, selber Künstler, hat die guten alten Zeiten der berühmten Künstlerkolonie wieder zum Leben erweckt, als sich viele Maler und «Malweiber», wie man sie damals nannte, unter den Reetdächern tummelten. Der Maler Paul Müller-Kaempff entdeckte das verschlafene und im wahren Sinn des Wortes malerische Ahrenshoop 1889 auf einer Wanderung: «Wir hatten von seiner Existenz keine Ahnung und blickten entzückt auf dieses Bild des Friedens und der Einsamkeit. Kein Mensch war zu sehen, die altersgrauen Rohrdächer, die grauen Weiden und grauen Dünen gaben dem ganzen Bilde einen Zug tiefsten Ernstes und vollkommener Unberührtheit.» Zu den Gästen gehörten in den 1910er-Jahren auch die Expressionisten Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky. Werefkin brachte ihre Eindrücke mit dem Gemälde «Die Steilküste von Ahrenshoop» auf die Leinwand. Die russische Adlige lebte von 1918 bis zu ihrem Tod 1938 völlig verarmt in Ascona, wo sie mit der Schenkung eigener Bilder das Kunstmuseum mitbegründete.

«Laat man loopen!», lass ruhig laufen, heisst ein plattdeutscher Ausdruck. Die Sprache wird zwar in der Schule gelehrt, aber nur noch unter den Alten gesprochen. Fürs Velofahren ein passender Spruch. Doch nicht immer durchführbar, ausser, man hat den Wind im Rücken. Thomas Lange, Hotelier in Graal-Müritz, rät uns, sich an einem festen Ort einzuquartieren und von dort aus Radtouren zu unternehmen. Erstens kann man morgens schauen, woher der Wind weht. Zweitens ist die Ostsee wieder «in» und praktisch ausgebucht. Trotzdem werden wir den Ausspruch «Kiek mol wedder in» (schau mal wieder vorbei) in nicht allzu ferner Zeit befolgen!

 

Nützliche Informationen

An-/Rückreise: Nachtzug Basel–Berlin (ab 21.13 Uhr, an 6.06 Uhr). Weiter via Rostock, Ankunft 10.15 Uhr.

Velos: Die Mecklenburger Radtour organisiert die Route, vermietet Velos und transportiert auf Wunsch das Gepäck: www.mecklenburger-radtour.de

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