Wenn die Schlote nicht mehr rauchen

|

Die letzte Kohle-Zeche im Ruhrpott schliesst 2018. Die Region um Essen, Dortmund und Oberhausen hat sich verändert: Statt Bergleute tummeln sich nun Touristen auf den Zechen, auf den Bahntrassen der Bergwerke sind Velowege entstanden.

Anreise

Übernachten

  • Das «Welcome Hotel» in Essen liegt zentral, www.welcome-hotels.com/welcomehotel-essen. Der Bahnhof ist mit der U-Bahn oder zu Fuss leicht erreichbar.

Essen und Trinken

Tief durchatmen und etwas warten, bis der Schwindel verflogen ist. Danach ist man nur noch beein-druckt: Das Ruhrgebiet liegt einem zu Füssen, selber steht man auf seinem Dach. Auf dem Gasome-ter in Oberhausen, 117,5 Meter über dem Boden. Seinen Dienst für die Industrie hat das Bauwerk 1988 quittiert. Bis dann speicherte es zuerst Gichtgas, ein Abfallprodukt der Hochöfen und später auch Koksgas der Kokerei Oberhausen. Heute beherbergt der Gasometer spektakuläre Ausstellun-gen. Das blosse Bauwerk fasziniert, im Inneren staunt man über die Höhe, fühlt sich winzig klein. Noch bis Ende November sind die «Wunder der Natur» zu bestaunen und als Höhepunkt die Erde selbst. Eine 20 Meter grosse Erdkugel schwebt im Gasometer. Bewegte, hoch aufgelöste Satelliten-bilder werden detailgenau auf die Erdkugel projiziert. Die Fahrt im gläsernen Panoramaaufzug auf das Dach des Gasometers bietet einen Blick auf unseren Heimatplaneten, wie ihn sonst nur Astro-nauten erleben. Pressesprecher Thomas Machozcek erzählt, dass er als Kind das Gebiet um den Gasometer als einzigen grossen Abenteurspielplatz erlebt habe. Heute geht es geordnet zu und her: Ein gut gesicherter Seilpark unterhält die Jugendlichen. 

Selbstgemachte Berge

Der Blick schweift vom Gasometerdach über Hügel, entlang von Kanälen und Flüssen. Ein zweiter Blick tut Not und bringt viele Erklärungen. Die Hügel sind selbstgemacht und heissen Halden. Sie zeugen von der Industriekultur, welche die ganze Gegend prägte und noch heute Teil der Kultur ist. Entstanden sind die Halden aus dem Material, das beim Bergbau anfällt: Gestein, teilweise aber auch Schlacke aus Hochöfen. Heute sind die meisten Halden grün, begehbar und oft mit Kunst ge-schmückt. Denn die Zeit der Zechen ist vorbei, 2018 wird die letzte stillgelegt. Dekarbonisierung live: Eine halbe Million Menschen hat ihre Stelle verloren, eine ganze Region hat sich umstruktu-riert. Was heute lieblich und grün ist, wurde früher «Land der tausend Feuer» genannt, aus den Ka-minen quoll dichter Rauch.

Denkmal statt Kohle

Erkunden lässt sich die Vergangenheit etwa auf dem rund 100 Hektar grossen Gebiet der Zeche Zoll-verein in Essen. Das Doppelbock-Fördergerüst ist von weither sichtbar, die Anlagen sind komplett erhalten und konserviert. Wo einst Arbeiter unter Tage malocht haben, beleben heute Kunst und Kultur die Gebäude. Zollverein ist seit 2001 Unesco-Welterbe und auf dem «Denkmalpfad» erleben wir, wie Kohle abgebaut wurde. 

Was harmlos klingt, war laut, dreckig und körperlich unfassbar anstrengend. Ein Modell zeigt auf dem Denkmalpfad, wie das vor sich gegangen ist: Runter in schmalen Schächten, auf den Knie mit dem Presslufthammer Kohle abbauen und in Wagen schaufeln, die oben entladen wurden. Schicht für Schicht wurden so die Kohlevorkommen abgeräumt, waagrecht im Stein verliefen die Stollen, abgestützt mit Holzbohlen. Lebendig wird die Führung nicht nur durch die sehr kompetenten und gleichzeitig unterhaltsamen Ausführungen, sondern auch durch Film- und Tonsequenzen. Die Werk-zeuge darf man in die Hand nehmen, die Maschinen anfassen – auch wenn sie heute säuberlich durch Kunstharz konserviert sind und nicht mehr unter einer Dreck und Staubschicht liegen.

Café in der Kohlenwäsche

Bis 1986 wurden auf der Zeche insgesamt 240 Millionen Tonnen Kohle abgebaut, über und unter Tage waren bis zu 8000 Bergleute rund um die Uhr beschäftigt. Heute zieht das Gelände jährlich rund 1,5 Millionen Touristen an. Wo einst Kohle gewaschen wurde, wird jetzt Kaffee serviert, wo Koks gebacken wurde, hat sich ein charmantes Café eingerichtet. Im Sommer gibt’s sogar ein klei-nes Schwimmbecken, im Winter eine Schlittschuhbahn. 

Unterwegs im Radrevier

Am schönsten und angenehmsten lässt sich das Gebiet auf dem Rad entdecken: Eine Mietstation von «Revierrad» befindet sich auf dem Gelände von Zollverein. Und dann geht es los, fachkundig begleitet von Florian Ikenmeyer. Er stammt aus dem Pott und ist heute für das Marketing des radre-vier.ruhr bei Ruhr Tourismus zuständig. Ikenmeyer ist stolz auf das Radwegenetz von über 1200 Kilometern Länge, welches das Ruhrgebiet durchzieht und als Grundgerüst für «radrevier.ruhr» dient. Es rollt sich gemütlich, denn die Radwege sind auf ausgebauten ehemaligen Bahntrassen. Auf der «Route der Industriekultur» lassen sich die Industriedenkmäler im Ruhrgebiet mit dem Fahrrad entdecken. Wir fahren einen Nachmittag lang und staunen über die Vielfalt auf der etwa 30 Kilome-ter langen Tour. Eben noch waren wir in Essen, nun sind wir in Gelsenkirchen – die Städte fliessen nahtlos ineinander. Kein Wunder, entstanden sind sie dort, wo sich die Zechen angesiedelt haben. Wer eine Stärkung braucht, findet sie zum Beispiel an der Erzbahnbude, einem der bekanntesten Radler-Treffpunkte. Ikenmeyer erklärt uns die Trinkhallen-Eigenart: Jedes Viertel habe seine «Bude», Treffpunkte, bis spät in die Nacht offen, wo es neben Bier auch die nötigsten Lebensmittel gebe. Leicht bergab geht es, kurz radeln wir der Emscher entlang, die nach und nach aus ihrem Betonkor-sett befreit und renaturiert wird. «Ein mageres Flüsschen», denkt man und guckt auf den Rhein-Herne-Kanal mit seinen Schleusen und den Frachtschiffen auf dem Weg ans Meer. 

Auch eine Halde erklimmen wir. Zu Fuss, der Weg ist für Schweizer Verhältnisse zwar nicht speziell steil, aber rutschig. Schurenbachhalde nennt sie sich und oben haben wir einen Moment lang das Gefühl, auf dem Mond zu sein. Schwarzer Boden, kein Halm wächst hier. Und in der Mitte ragt seit 1998 die Bramme in die Höhe, eine minimalistische Stahlskulptur des amerikanischen Künstlers Richard Serra. Uns erinnert sie ein wenig an den Monolithen, der an der expo.02 den Murtensee geziert hat.

Alltag im Museum

Zurück auf Zollverein ist ein Besuch im Ruhrmuseum Pflicht: Von der Entstehung der Kohle bis zum Ende der Zechen ist alles dokumentiert. Die Auswirkungen der dreckigen Luft bezeugen nicht nur ein Video aus den 60er-Jahren, sondern auch die eingelegte Lunge eines Bergmanns, der an Silikose gestorben ist. Im Fokus steht der Alltag der Region, den auch eine beinahe unkommentierte Samm-lung von Fotos der Siedlungen illustriert. Fussball spielt eine wichtige Rolle, das haben wir auch auf dem «Denkmalpfad» erfahren. Steht man auf dem Dach der ehemaligen Kohlenwäsche, erblickt man bei klarem Wetter die Arena auf Schalke: Wie ein gütiges Auge wacht sie über drei Gotteshäuser, eine reformierte, eine katholische Kirche und eine Moschee. Die Zeiten, in denen die Bergleute nicht nur unter Tag schufteten, sondern am Sonntag auch noch auf dem Rasen kickten, sind längst vorbei. Dennoch – ob jemand Schalke 04, dem BVB VfL Bochum zujubelt, das ist eine Glaubensfrage und gehört zur Identität des Ruhrgebiets. 

Auge in Auge mit Weltmeistern  

So erstaunt es auch nicht, dass das Deutsche Fussballmuseum seinen Sitz in Dortmund hat. Und wer sich auch nur im Ansatz für Fussball interessiert, wird mindestens einen halben Tag lang präch-tig unterhalten. Im 3D-Kino plappern plötzlich die Spieler der deutschen Nationalmannschaft mitei-nander und erinnern sich an ihre grössten Erfolge. Die Bundesliga in all ihren Facetten, aber auch Sonderausstellungen, wie etwa die Bibliothek von Trainerlegende Sepp Herberger geben kurios spannende Einblicke in die Fussballwelt. An Spieltagen verwandelt sich die Dortmunder Innenstadt in eine einzige gelb-schwarze Menschenmasse. Und wie solidarisch Fans sein können, hat sich im Frühling gezeigt, als das Champions-League-Spiel von Dortmund gegen Monaco abgesagt wurden musste. Flugs haben BVB-Fans auf Twitter Übernachtungsmöglichkeiten für gestrandete Anhänger des gegnerischen Clubs angeboten. 

Kohle im Mund

Wer nach Museen und Radtouren einfach nur noch ausruhen will, tut dies in Dortmund zum Beispiel in Hövels Hausbrauerei bei Bier und zünftiger Hausmannskost. Hungrig geht keiner vom Tisch und wer sich durch die Karte trinkt, kann sich auf einen prächtigen Kater gefasst machen: Ans «Affen-bier» (Weizenbier mit Bananensaft) haben wir uns nicht gewagt. In Essen, das sich als Ausgangs-punkt für einen mehrtägige Entdeckungstour durchs Ruhrgebiet anbietet, haben wir hingegen den «Hobbit» gekostet. Im «Café Nord» wird dieser leuchtend türkisfarbene, äusserst süffige Drink an-geboten. Ebenfalls in Essen kann man Kohle essen: Im «Kohle Craft Werk» werden saftige Burger in brandschwarzen Brötchen serviert. Das «Kohle Craft Werk» liegt an der Rüttenscheider Strasse, die mit vielen Bäckereien, Restaurants und Bars jedem etwas bietet. Und wer auf der Suche nach noch mehr Kultur ist, wird ebenfalls fündig: nicht nur in sehr sorgfältig sortierten Buchhandlungen, son-dern auch im «Museum Folkwang» mit seiner umfassenden Sammlung moderner Kunst. 

Diese Seite wird nur mit JavaScript korrekt dargestellt. Bitte schalten Sie JavaScript in Ihrem Browser ein!
.hausformat | Webdesign, TYPO3, 3D Animation, Video, Game, Print