Wo Italien das Velo willkommen heisst

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Der zentrale Walther-Platz in Bozen ist ein beliebterTreffpunkt in der Hauptstadt des Südtirols.

Der Vinschgau ist erstaunlich wenig bekannt. Dabei hat er vor allem für Veloreisende viel zu bieten. Man erreicht ihn ganz im Osten der Schweiz via den Reschenpass und rollt dann auf einer durchgehenden Route bis nach Bozen.

Die Sache mit den Namen

Nach der Staumauer geht es auf dem Umweg über Ulten noch einmal etwas bergauf. Erst dann werden die Velotouristen mit einer schönen Abfahrt belohnt, auf der sie den Wind in den Haaren spüren, sogar  wenn sie einen Helm tragen. Es geht nach Burgeis und dann am rauschenden Fluss weiter nach Glurns/Glorenza, der kleinsten Stadt des Südtirols. Alle Ortsnamen im Südtirol sind zweisprachig angeschrieben. Die Etsch heisst Adige, das Schloss Churburg wird Castello Coira genannt, der Vinschgau Val Venosta. Viele italienische Bezeichnungen sind Kunstnamen ohne historischen Bezug. Sie gehen auf die Arbeit einer italienischen Kommission zurück, die 12 000 deutsche und ladinische Ortsnamen übersetzte. Der Diktator Mussolini erklärte die Liste in den 1920er-Jahren per Dekret als obligatorisch.

Der Name Südtirol wurde verboten und durch Alto Adige ersetzt. Das Südtirol war nach der Auflösung der Habsburger Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs an Italien gefallen. Mussolini, der 1922 an die Macht kam, wollte die neue Provinz rasch italianisieren, wobei er unzimperlich vorging. Er verbannte die deutsche Sprache aus Verwaltung und Gerichten. Die Schulen und Kindergärten wurden aufgelöst, worauf die Südtiroler ihre Kinder in geheimen Klassen in der Muttersprache unterrichteten, die sie Katakombenschulen nannten.

Weil der Erfolg ihrer Bestrebungen ausblieb, griff die Regierung in den 1930er-Jahre zum Mittel der «Majorisierung». Sie förderte die Ansiedlung «richtiger» Italiener, um die Südtiroler zur Minderheit in ihrer Heimat zu machen. Der Streit um die Ortsnamen aus faschistischer Zeit flammt heute noch ab und zu auf. Insgesamt hat er sich aber entschärft. Das wirtschaftlich erfolgreiche Südtirol gilt als Modell für das friedliche Zusammenleben von zwei, sogar drei Sprachgruppen, wenn man die kleine ladinische Minderheit einbezieht.

Fruchtbare Autonomie

Mit dazu beigetragen hat das Autonomiestatut aus dem Jahr 1972, das am Anfang nur zögerlich umgesetzt wurde. Inzwischen steht der Provinz Südtirol und Trentino aber eine beträchtliche Handlungsfreiheit zu. Ein auch von den Touristen beachtetes Ergebnis davon ist die Vinschgaubahn. Die Ferrovia dello Stato hat sie 1990 stillgelegt. Der Staatsbetrieb hatte sich zuvor kaum für die Modernisierung der touristisch interessanten Strecke eingesetzt und nur einen minimalen Fahrplan und uraltes Rollmaterial angeboten.

1999 ging die Anlage an das Land Südtirol über, das die 60 Kilometer lange Strecke zwischen Mals und Meran in einem Kraftakt sanierte und 2007 mit neuen Dieseltriebzügen wieder eröffnete. Inzwischen zählt die Bahn mehr als zwei Millionen Passagiere pro Jahr. Bis 2021 wird sie elektrifiziert, mit dem Ziel, die Kapazität weiter zu erhöhen und den Fahrplan zu verdichten.

Die Vinschgaubahn ist der beste Beweis dafür, dass auch Nebenbahnen eine wichtige Rolle spielen können, wenn man etwas aus ihnen macht. Die bunten Kompositionen begleiten einen auf der Velotour fast ebenso wie die Etsch, an die sich der Radweg eng hält. So rollt es sich manchmal gemächlich und kurvenlos gerade durch die Ebenen, dann folgen steile Stufen, bei denen eher die Bremsen als die Pedale zum Einsatz kommen.

Im fruchtbaren Gelände dominieren bald die Apfelbäume das Landschaftsbild. Die von Kleinbetrieben produzierten neuen Sorten (Gala, Idared, Fuji usw.) werden in zahllosen langen Reihen als Spalierobst an Drähten gezogen. Das Südtirol ist das grösste Apfelbaugebiet auf dem Kontinent. Es deckt zehn Prozent des europäischen Apfelbedarfs. Für die Obstbäume ist das Klima mit den vielen Sonnenstunden und dem geringen Risiko von Kälteeinbrüchen in der Blütezeit ideal.

Von Bergen und Schlössern

Abgehalten wird der Frost von hohen Gipfeln wie dem Similaun und der Hohen Wilde im Norden sowie dem Ortler im Süden, der mit 3905 m höchsten Südtiroler Spitze. Sie tragen im Lenz noch Schneeröcke, wenn die Bäume in Blüten stehen und bilden dann eine besonders erfrischende Kulisse. An strategischen Lagen gibt es ausserdem  Schlösser zu bestaunen. Das bekannteste ist inzwischen jenes von Juval oberhalb von Staben, denn es gehört Reinhold Messner, dem berühmtesten lebenden Südtiroler.

Der umtriebige Extrembergsteiger und Publizist ist in seiner Heimat sehr angesehen und mehrfacher Schlossherr. Juval war seine erste Immobilie aus dem Mittelalter. Er hat die teilweise baufällige Anlage 1983 gekauft, vorbildlich restauriert und in den Sälen mehrere Museen eigerichtet, darunter eine Tibetica-Sammlung. Man kann sie auf Führungen besuchen, ausser im Juli und August, dann residiert der bärtige Alpinist auf seinem Stammsitz, auf dem er Bücher schreibt, die Reben pflegt, eigenen Wein herstellt und ihn auch trinkt. Unterhalb von Partschins folgt die letzte nennenswerte Talstufe. Der Veloweg überwindet sie auf eigens für die kleinen Königinnen angelegten Haarnadelkurven. Dann kommt man nach Meran, in die erste grössere Stadt an der Etsch. In der Belle Époque zählte sie zu den bekanntesten Kurstädten Europas. Etliche Berühmtheiten haben sich im südlich-trockenen Klima von ihren Gebresten zu befreien versucht, darunter Literaten wie Franz Kafka und Christian Morgenstern.

Ab 1881, als die Bahn von Bozen nach Meran eröffnet wurde, verkehrten direkte Waggons vom russischen St. Peterburg nach Meran. Zum Prestige der Stadt trugen die Besuche von Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837–1898) bei. Die Kaiserin Sissi logierte mit ihrem Gefolge von bis zu 70 Personen in den Schlössern der Umgebung. Die Behörden legten für die Kaiserin Telefonleitungen an und beleuchteten die Wege in die Stadt.

Die vornehmen Meraner Gäste genossen die Annehmlichkeiten des Kurbetriebs, das tägliche Konzert sowie den Park und die Spazierwege, die noch heute existieren. Der schönste ist der Tappeinerweg. Er führt als Panorama-Promenade vom Pulverturm flach über vier Kilometer bis nach Gratsch und wurde auch schon blumig «Empore der paradiesischen Szenerie des Burggrafenamtes » genannt. Jedenfalls lohnt es sich, in Meran Station zu machen. Die Stadt an der Passer besitzt ein modernes Thermalbad, einen alten Kern, ein paar Kirchen und ein reiches Kulturangebot. Auch das Schloss Trauttmansdorff, in dem die Kaiserin 1870 einige Suiten belegte, ist einen Umweg wert. Es befindet sich erhöht am Ostrand von Meran. Der grosse Schlossgarten ist seit 2003 eine prächtige Gartenlandschaft mit 80 verschiedenen Abteilungen. Floristinnen, Fotoamateure und Verliebte kommen hier auf ihre Rechnung.

Bozen zum Abschluss

Vom Schloss aus erreicht man direkt den Radweg nach Bozen. Italienische Radrennfahrer nutzen die nun völlig flache Piste als Trainingsgelände. Sie zischen mit gesenkten Köpfen und kräftiger Beinmuskulatur an den Tourenfahrern und ihren Sacochen vorbei, die Bozen meist etwas gemächlicher ansteuern. In der Hauptstadt des Landes Südtirol ist die Bevölkerung mehrheitlich italienischer Muttersprache. Doch zeichnet sich die Stadt durch das Vorhandensein beider Kulturen aus, was das Angebot verdoppelt. Auf dem Markt gibt es nebst viel Salami viel Speck, die Restaurants bieten Knödel oder Pasta an. Man fühlt sich mit einem Bein in Italien, mit dem anderen in der Habsburger Monarchie, trinkt guten Wein ebenso wie gutes Bier, zum Beispiel in einem der Cafés am zentralen Walther-Platz.

Der Platz ist Walther von der Vogelweide gewidmet. Im 19. Jahrhundert waren viele überzeugt, der Minnesänger sei in der Nähe von Bozen geboren, was höchst ungewiss ist. Der Platz trug in den letzten 200 Jahren schon etliche Namen, je nachdem, wer im Südtirol gerade das Sagen hatte: die Bayern, die Habsburger, Mussolini oder die Demokratie.

In der Mitte steht ein Brunnen mit dem Standbild des Lyrikers. Darunter richtet sich an schönen Tagen der Multiinstrumentalist Klaus Walter ein, ein kleines Männchen mit Tirolerhut, das seinerseits fast  um Denkmal geworden ist. Es schützt sich mit einem Schirm gegen die Sonne, spielt auf dem Hackbrett, der Mundharmonika und mit vielen Glocken alte deutsche Weisen sowie Ennio Morricones «C’era una volta il West». Am Abend packt der Musiker seine Utensilien in das moderne elektrische Cargovelo und verschwindet in den malerischen Laubengassen der Altstadt.

 

Praktische Informationen

Route: Auf der Veloroute 65 (Schweizmobil) bis Martina. Aufstieg nach Nauders, dann weiter auf dem gut markierten Etsch-Radweg via Meran nach Bozen.

Anreise: Mit dem Zug via Landquart nach Lavin oder Scuol.

Rückreise: Mit dem Zug via Brenner und Innsbruck. Railjet-Züge mit Reservationspflicht für Velos.

Distanz: 140 Kilometer ab Scuol.

Sehenswert: Schloss Juval, nur geführte Besichtigung (messner-mountain-museum.it); Wasserfall von Partschins (erreichbar mit dem Bus 265 ab Bahnhof Rabland bzw. ab Partschins); Schloss Trauttmansdorff (Radweg ist ab dem Elisabethenpark in Meran ausgeschildert und auf dem Stadtplan eingetragen; trauttmansdorff.it)

Übernachten: Zahlreiche Hotels und Gästezimmer am Weg (suedtirol.info; meran.eu; bolzano-bozen.it)

Kehrt man der Schweiz im Unterengadin den Rücken, ist das Velo das empfehlenswerteste Verkehrsmittel. Die Region ist grenzüberschreitend mit guten Radwegen ausgerüstet. Sie weist ausserdem stattliche Berge und Pässe auf, darunter den Reschenpass, der relativ gnädig ist. Er ist nur gut 1500 m hoch und besitzt mit dem Inntalradweg – der Route 65 – eine lohnende Anfahrt. Man erreicht sie zum Beispiel von den Bahnstationen Lavin oder Scuol aus und folgt ihr bis Martina.

Von diesem Grenzdorf führt auf österreichischem Hoheitsgebiet eine wenig befahrene Strasse mit Haarnadelkurven hinauf zur Norbertshöhe. Etwas später in Nauders biegt man in den Etsch-Radweg  in, der hier mit der Via Claudia Augusta (Donauwörth–Venedig) zusammenfällt. Das Schloss Naudersberg steht düster und mächtig auf einem Hügel. Es beherbergt ausser einem Museum auch Touristenzimmer. Nach einem letzten Anstieg überquert man die nächste Landesgrenze. So gelangt man nach Reschen, in den Vinschgau, das Südtirol, nach Italien.

Der malerische und traurige Kirchturm

Der Reschenpass ist eine lange Ebene, die seit 1949 der Stausee ausfüllt. Der oft abgebildete romanische Kirchturm von Graun, dessen Spitze am linken Ufer aus dem Wasser ragt, ist zu seinem Symbol geworden. «Malerisch» sei dieses Bild, findet der Veloführer. Es ist jedoch auch das Monument einer traurigen Geschichte. Der Kraftwerkanlage fielen die beiden alten Dörfer Reschen und Graun zum Opfer, deren Gebäude zwecks Stromproduktion gesprengt wurden. Nur der Kirchturm durfte aus kunsthistorischen Gründen stehen bleiben.

Die Einheimischen, die ihre Häuser und Ställe verloren, mussten entweder auswandern oder für zwei Jahre in einem Barackendorf wohnen, bis die neuen Gebäude am Ufer beziehbar waren. Das Projekt geht auf die faschistische Zeit unter Mussolini zurück, wurde aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg realisiert. Unter anderem mit Schweizer Kapital, weshalb das Kraftwerk den Strom im ersten Jahr gratis ins Nachbarland lieferte.

Die heutigen Touristen kümmert das wenig. Sie stellen ihre Automobile, Camper und Töffs kurz auf dem Parkplatz ab, schiessen ein Erinnerungsfoto und ziehen dann weiter nach Süden. Dort wollen auch wir hin, allerdings nicht auf der Strasse, sondern auf dem Etsch-Radweg, der bis nach Bozen nahezu durchgehend auf einem eigenen Trassee angelegt ist. Das Land Südtirol hat in den letzten Jahren viel Geld und Energie in den Ausbau des Radwegnetzes gesteckt. Die Etsch entspringt oberhalb von Reschen in den Ötztaler Alpen neben einem alten Bunker. Der zweitlängste Fluss Italiens fliesst durch Verona und endet nach 415 Kilometern in der Adria.

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