Kehrt man der Schweiz im Unterengadin den Rücken, ist das Velo das empfehlenswerteste Verkehrsmittel. Die Region ist grenzüberschreitend mit guten Radwegen ausgerüstet. Sie weist ausserdem stattliche Berge und Pässe auf, darunter den Reschenpass, der relativ gnädig ist. Er ist nur gut 1500 m hoch und besitzt mit dem Inntalradweg – der Route 65 – eine lohnende Anfahrt. Man erreicht sie zum Beispiel von den Bahnstationen Lavin oder Scuol aus und folgt ihr bis Martina.
Von diesem Grenzdorf führt auf österreichischem Hoheitsgebiet eine wenig befahrene Strasse mit Haarnadelkurven hinauf zur Norbertshöhe. Etwas später in Nauders biegt man in den Etsch-Radweg in, der hier mit der Via Claudia Augusta (Donauwörth–Venedig) zusammenfällt. Das Schloss Naudersberg steht düster und mächtig auf einem Hügel. Es beherbergt ausser einem Museum auch Touristenzimmer. Nach einem letzten Anstieg überquert man die nächste Landesgrenze. So gelangt man nach Reschen, in den Vinschgau, das Südtirol, nach Italien.
Der malerische und traurige Kirchturm
Der Reschenpass ist eine lange Ebene, die seit 1949 der Stausee ausfüllt. Der oft abgebildete romanische Kirchturm von Graun, dessen Spitze am linken Ufer aus dem Wasser ragt, ist zu seinem Symbol geworden. «Malerisch» sei dieses Bild, findet der Veloführer. Es ist jedoch auch das Monument einer traurigen Geschichte. Der Kraftwerkanlage fielen die beiden alten Dörfer Reschen und Graun zum Opfer, deren Gebäude zwecks Stromproduktion gesprengt wurden. Nur der Kirchturm durfte aus kunsthistorischen Gründen stehen bleiben.
Die Einheimischen, die ihre Häuser und Ställe verloren, mussten entweder auswandern oder für zwei Jahre in einem Barackendorf wohnen, bis die neuen Gebäude am Ufer beziehbar waren. Das Projekt geht auf die faschistische Zeit unter Mussolini zurück, wurde aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg realisiert. Unter anderem mit Schweizer Kapital, weshalb das Kraftwerk den Strom im ersten Jahr gratis ins Nachbarland lieferte.
Die heutigen Touristen kümmert das wenig. Sie stellen ihre Automobile, Camper und Töffs kurz auf dem Parkplatz ab, schiessen ein Erinnerungsfoto und ziehen dann weiter nach Süden. Dort wollen auch wir hin, allerdings nicht auf der Strasse, sondern auf dem Etsch-Radweg, der bis nach Bozen nahezu durchgehend auf einem eigenen Trassee angelegt ist. Das Land Südtirol hat in den letzten Jahren viel Geld und Energie in den Ausbau des Radwegnetzes gesteckt. Die Etsch entspringt oberhalb von Reschen in den Ötztaler Alpen neben einem alten Bunker. Der zweitlängste Fluss Italiens fliesst durch Verona und endet nach 415 Kilometern in der Adria.